Bayerische Geschichte
Erinnerungen an einen "Bahnhof" besonderer Art: Haltepunkt Wiespoint
Foto: Zwischen Mitterfels und Wiespoint: Der letzte Zug transportiert die Gleise ab.
Haltepunkt Wiespoint
Kein Bahnhofsgebäude, kein Fahrkartenschalter, kein Rangiergleis, keine Weiche, kein Prellbock, kein Bahnbeamter, nur eine Tafel unter der Brücke „Haltepunkt Wiespoint”! Das war für die Reisenden zwischen Steinburg und Mitterfels über drei Generationen hinweg die einzige Möglichkeit, sich des Massenverkehrsmittels Bahn zu bedienen. Von hier fuhr man in die Stadt zum Einkaufen, aufs Bezirksamt (Landratsamt) nach Bogen, ins Gymnasium oder zur Arbeit nach Straubing. Hier bestiegen Soldaten den Zug; für manchen blieb das Erdreich am Haltepunkt Wiespoint das letzte Stück Heimaterde unter den Füßen.
Die Geburtsstunde des Haltepunktes Wiespoint war das Jahr 1891. Am 4. Oktober d. J. hatte der Gemeindeausschuss (= Gemeinderat) der Gemeinde Dachsberg den Beschluss gefasst, bei den zuständigen Stellen die Errichtung eines Haltepunktes für die geplante Bahn voranzubringen. Die Ge-meindeversammlung (= alle stimmberechtigten Bürger) hat am 7. Oktober 1891 einstimmig den Beschluss des Gemeindeausschusses gebilligt. (Siehe dazu das vorliegende Dokument.) Der Einzugsbereich des Haltepunktes umfasste die Ortschaften Dachsberg, Schwarzenstein, Maisenthal, Hofstetten, Großay, Wiespoint, Uttendorf, Hagnberg, Kögl, Haidbühl und Buchberg.
Die Verantwortlichen der Bahn standen dem Vorhaben Haltepunkt Wiespoint recht zurückhaltend gegenüber; stellten sie doch den hohen Energieaufwand beim Abbremsen und Anfahren des Zuges den geringen Einnahmen durch die wenigen Fahrgäste gegenüber. Die Dachsberger erkauften sich jedoch regelrecht ihren Haltepunkt durch die hohe Selbstbeteiligung an den Grunderwerbungskosten für die Bahntrasse im Gemeindebereich. 831,25 Mark - bei einem Gesamtsteueraufkommen von nur 905 Mark - ließen sich die Dachsberger “ihren Bahnhof” kosten.
Der Haltepunkt hatte - wie zwei weitere auf der gesamten Strecke - seine Eigenheiten. Es gab keine Stückgutabfertigung, keine Massengutabfertigung und keine Postbeförderung. Stand unter der Wiespointer Brücke niemand, und war dem Lokführer durch den Schaffner kein Fahrgast zum Aussteigen gemeldet, so hielt der Zug oft nicht. Hatte der Schaffner die Meldung eines Fahrgastes an den Lokführer vergessen, so kam es des Öfteren vor, dass der Bahnreisende unentgeltlich bis zum nächsten Bahnhof (Mitterfels oder Steinburg) fahren „durfte”. Die Heimkunft verzögerte sich dann um den Rückmarschweg.
Zweimal hatte der Haltepunkt Wiespoint Hochkonjunktur. Dies waren die Notzeiten während und nach den beiden Weltkriegen. Im rein landwirtschaftlich geprägten Hinterland des Haltepunktes gab es immer etwas zu ergattern, damit daheim der Hunger etwas erträglicher blieb. Besonders am Wochenende bildeten damals „Hamsterer” die Mehrzahl der Fahrgäste.
Die ständig rückläufigen Benutzerzahlen - infolge des zunehmenden PKW-Verkehrs - zwangen die Bahn dazu, den Dampflokzug durch einen Triebwagen (mit Dieselmotor) zu ersetzen. Als auch dieser häufig kaum noch eine Handvoll Leute beförderte, wurde 1984 der Bahnbetrieb auf diesem Streckenabschnitt ganz eingestellt. Die Gleisanlagen wurden abgebaut und die Bahntrasse an den Landkreis verkauft. Die Wiespointer Brücke wurde 1991 gesprengt und durch eine den heutigen Verkehrsverhältnissen angemessene ersetzt.
Zwischen Mitterfels und Wiespoint: Der letzte Zug transportiert die Gleise ab (li.) - Kilometerstein am ehemaligen Haltepunkt Wiespoint
Der Bahnkörper ist heute ein gut frequentierter Geh- und Radweg. An den einstigen Haltepunkt Wiespoint erinnert nur noch der Kilometerstein 23 (vom Bahnhof Straubing aus gerechnet), der exakt die Haltestelle des „Bayerwaldbockerls” markierte.
Die gesprengte Brücke am Haltepunkt Wiespoint. Im Hintergrund der Weiler Hofstetten (li.) - Die neue Brücke in Wiespoint
Überlegungen zu dem Beschluss
Ein erster Gesichtspunkt fällt auf. Sämtliche Gemeindebürger sind eingeladen und nur 16 sind erschienen, und das bei einem derart epochalen Ereignis, wie es der Bahnbau vor 100 Jahren nun einmal war. Dabei hatte Dachsberg damals bestimmt nicht weniger Einwohner als heute. Wie ist das zu erklären?
Grundlage hierfür war das Wahlrecht von 1869. Und dieses bestimmt, dass nur wahlberechtigt ist, wer das Gemeindebürgerrecht besitzt. Dieses Gemeindebürgerrecht konnte nur erwerben, wer folgende 6 Voraussetzungen erfüllte:
1. Besitz der Bayerischen Staatsangehörigkeit.
2. Männliches Geschlecht. Weibliche Personen waren nicht wahlberechtigt.
3. Volljährigkeit. Das 25. Lebensjahr musste vollendet sein.
4. Selbständigkeit. Abhängige, z. B. Dienstboten, hatten kein Wahlrecht.
5. Ständiger Aufenthalt in der Gemeinde.
6. Direkter Steuerzahler. Wer nicht steuerpflichtig war, hatte kein Wahlrecht.
Ein zweiter Aspekt in diesem Dokument dürfte für uns heute von Interesse sein. Es heißt hier, die geladenen 29 Bürger vertreten 37 Steuerstimmen, und die 16 erschienenen Wähler vertreten 21 Steuerstimmen. Was heißt das? Die „Bayerische Gemeindeordnung” bestimmte damals in Art. 149, dass in der „Gemeindeversammlung” nicht das Prinzip „Ein Mann = eine Stimme” Gültigkeit hatte, sondern dass die Stimmenzahl sich nach der Steuerkraft des Wählers richtete; anders ausgedrückt: Ein großer Steuerzahler hatte mehr als nur eine Stimme, und wer keine Steuern zahlen musste wegen zu geringen Einkommens, durfte auch nicht wählen. Unserem heutigen Demokratieverständnis läuft so etwas zuwider, aber damals galt eben der Grundsatz: Wer zahlt, schafft an.
Die Drohung
Ein angesehener Bauer im Einzugsbereich des Haltepunktes Wiespoint fuhr einige Zeit nach Eröffnung der Bahnlinie von Wiespoint nach Haselbach, um die Sonntags-Andacht zu besuchen. Mit dem nächsten Zug fuhr er wieder zurück. Da er der einzige Fahrgast war, meinte der Schaffner zu ihm: „Die Kohlen, die wir für das Bremsen und Anfahren brauchen, kosten mehr, als uns die lumpigen Pfennige für die Fahrkarte einbringen.” Da stieß der Bauer die „fürchterliche” Drohung aus: „Wenn’s Euch nicht passt, dann fahr’ ich nächsten Sonntag gleich wieder!”
Quelle: Sigurd Gall, in: Mitterfelser Magazin 2/1996
>>> Zum Originalformat des MM 2/1996 gelangen Sie durch Klick auf das PDF-Icon:
Neueste Nachrichten
- KSK Falkenfels geht neue Wege: Satzung geändert
- 1000 Jahre Geschichte um Mitterfels (69)
- Vortrag über „Das Neue Schloss“ Steinach bei der Jahresversammlung des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Mitterfelser Magazin. Jubiläumsausgabe 2024
- Windberg. Kultur- und Festspielverein mit Videofilmabend
- Benno und die Räuber vom Perlbachtal
- Eine „Dipferlscheißerin“ in Haselbach
- Mitterfels/Scheibelsgrub. „Jeder soll Chance bekommen“
- Haselbach. Christkindlmarkt am Rathausplatz
- Haselbach: Adventliches Singen
- St. Johann/Falkenfels. Konzert am ersten Adventssonntag
- 27. Mitterfelser Christkindlmarkt um die Burg 2024
- Gold für Haselbach beim Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“
- Falkenfels. Holzspiel läuft wieder
- Mitterfels/Haselbach. Ein neues Wandererlebnis
- Filmteam zu Gast in Mitterfels
- Nationalpark BW. Die Borkenkäfer-Bilanz für 2024
- Waldleben ...
- Renovierung von St. Thomas, Herrnfehlburg
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins ab MM 11
- MM 11/2005. A bißl wach wern in da Wiagn … a bißl Hoamaterdn wern.
- MM 11/2005. Aus über 2000 Metern Höhe runterschau’n
- MM 11/2005. A so gengan de Gang – und viele andere Ausdrücke der Mundart
- MM 11/2005. Ein Pestkreuz – zum Dengelstein umfunktioniert
- MM 11/2005. Von Josef Fuchs, Bauer von Hagenzell, 1899 errichtet
Meist gelesen
- Unser "Bayerwald-Bockerl" erlebte seinen 100. Geburtstag nicht
- Vor 27 Jahren: Restaurierung der einstigen Kastensölde in Mitterfels abgeschlossen
- Markterhebung - 50 Jahre Markt Mitterfels
- Mühlen an der Menach (08): Wasserkraftnutzung in Kleinmenach und an den Nebenflüssen (in Groß- und Kleinwieden und Aign)
- Menschen aus unserem Raum, die Geschichte schrieben (1): Johann Kaspar Thürriegel
- Mühlen an der Menach (21): Die Höllmühl
- Begegnung mit Menschen (6). Drei Wandgemälde in der Volksschule Mitterfels von Willi Ulfig
- Dakemma, Bäxn, Moar ....
- Mühlen an der Menach (05): So wurde in Frommried (und auch in anderen Mühlen) aus Getreide Mehl
- Erinnerungen an einen "Bahnhof" besonderer Art: Haltepunkt Wiespoint
- Mühlen an der Menach (04): Frommried, eine der ältesten Mühlen
- Impressum
- Mühlen an der Menach (11): Die Mühle in Recksberg
- Das alte Dorf im Wandel
- Mühlen an der Menach (03): Ein Perlbach namens Menach
- Ortskernsanierung in Mitterfels (Stand 1995)
- Die Kettenreaktion
- Sparkasse Mitterfels - 10 Jahre älter als bisher bekannt
- Mühlen an der Menach (07): Die Hadermühl
- Das neue Mitterfelser Magazin 22/2016 . . .
- BWV-Sektion Mitterfels: Über 40 Jahre Lebens- freude (Stand: 2003)
- Datenschutzerklärung
- Publikationen AK Heimatgeschichte Mitterfels
- 2021: VG Mitterfels wurde 44
- Es begann in Kreuzkirchen
- Begegnung mit Menschen (1). Erinnerungen an Balbina Gall - Hebamme von Mitterfels
- Eine Bücherei entsteht
- Das ehemalige Benediktinerkloster Oberaltaich - seine Bedeutung für unseren Raum
- Mitterfels. Vorweihnachtliches Lesekonzert im Burgstüberl
- Wandern auf kurfürstlichen Spuren
- Schloss Falkenfels als Flüchtlingslager
- Mühlen an der Menach (01) - Vorstellung der Themenreihe
- Ergebnis der Bundestagswahl 2017 in der VG Mitterfels
- Der Forst, ein Ortsteil von Falkenfels
- Kirchengrabung in Haselbach mit Fund romanischer Wandziegelplatten im Jahre 1990
- Hausnummern - Spiegelbild für Dorf und Gemeinde
- Widder an den Thurmloch-Wassern
- Mühlen an der Menach (02): Wasserkraftnutzung an der Menach
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Jahreshauptversammlung 2017 mit Exkursion
- Sind wirklich die Falken die Namensgeber von Falkenfels?
- Mühlen an der Menach (19): Die Ziermühl
- Erinnerungen eines Landarztes
- Über den Mitterfelser Dorfbrunnen
- Qualifikation zur bayerischen Meisterschaft im Seifenkistenrennen 1950 in Mitterfels
- Sie waren Lehrbuben auf Schloss Falkenfels
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Das neue Mitterfelser Magazin 21/2015
- Mühlen an der Menach (25): Die "Wartnersäge" bei den Bachwiesen
- Zentrales Gemeindearchiv: Altes Kulturgut besser nutzen
- Zur Ortskernsanierung (1995): Begegnung mit Stuttgarter Studenten
- Neues Mitterfelser Magazin 19/2013 erschienen
Meist gelesen - Jahresliste
- Das neue Mitterfelser Magazin 22/2016 . . .
- BWV-Sektion Mitterfels: Über 40 Jahre Lebens- freude (Stand: 2003)
- Publikationen AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Mitterfels. Vorweihnachtliches Lesekonzert im Burgstüberl
- Der Forst, ein Ortsteil von Falkenfels
- Burgmuseumsverein Mitterfels. Objekt des Monats Oktober 2016 . . . und frühere Objekte
- History of Mitterfels
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins
- Der Haselbacher Totentanz
- Bayerische Landesausstellung 2016 in Aldersbach. Bier in Bayern
- Kalenderblatt
- Mitterfels. Theaterspiel und Menü im Gasthaus „Zur Post“
- Landesausstellung "Bier in Bayern" in Alders- bach
- Club Cervisia Bogen. Bogen: Startschuss für D‘Artagnans Tochter und die drei Musketiere
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Führung Friedhof St. Peter in Straubing
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Exkursion zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
- Windberger Theater-Compagnie. „Lokalbahn“ - Rollen mit Herz und Seele gespielt
- Landkreis Straubing-Bogen. Hans Neueder gibt nach 25 Jahren sein Amt als Kreisheimatpfleger auf
- Jahresversammlung 2016 des AK Heimatgeschichte Mitterfels mit Exkursion nach Elisabethszell
- Schwarzach. KiS-Gründer Wolfgang Folger übergibt Amt des Vorsitzenden an Sascha Edenhofer
Meist gelesen - Monatsliste
- Neues aus unseren Gemeinden
- 1000 Jahre Geschichte um Mitterfels (69)
- MM 11/2005. Ein Pestkreuz – zum Dengelstein umfunktioniert
- MM 11/2005. Von Josef Fuchs, Bauer von Hagenzell, 1899 errichtet
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins ab MM 11
- Baugebiet Pimaisset Mitterfels. Mit Regenwasser die Toilette spülen
- MM 11/2005. A so gengan de Gang – und viele andere Ausdrücke der Mundart
- MM 11/2005. Aus über 2000 Metern Höhe runterschau’n
- MM 11/2005. A bißl wach wern in da Wiagn … a bißl Hoamaterdn wern.
- Kalenderblatt Allerseelen. Zwei Münchner Friedhöfe der besonderen Art
- Schwarzach. 33 Jahre KIS - Jahresprogramm
- Nationalpark BW. Die Borkenkäfer-Bilanz für 2024
- Renovierung von St. Thomas, Herrnfehlburg
- Vortrag über „Das Neue Schloss“ Steinach bei der Jahresversammlung des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- „Kein kleiner Waidler-Adel“
- Waldleben ...
- Mitterfelser Magazin. Jubiläumsausgabe 2024
- Filmteam zu Gast in Mitterfels
- Der Ursprung liegt bei Van Gogh
- Mitterfels/Haselbach. Ein neues Wandererlebnis