Kunst, Literatur
Erinnerungen an eine versunkene Welt
Ein beeindruckender Abend im Burgzimmer: Helmut Erwert las aus seinem Erstlingsroman „Elli oder die versprengte Zeit“. Foto: erö
AK Heimatgeschichte Mitterfels. Der Historiker Helmut Erwert las aus „Elli oder die versprengte Zeit“
Vorträge und Autorenlesungen des Arbeitskreises AK Heimatgeschichte Mitterfels und des Förderkreises Bibliothek finden immer einen interessierten Personenkreis; das Turmzimmer in der Burg Mitterfels bildet den passenden Rahmen. So fanden sich zur Autorenlesung des Geschichtsforschers Helmut Erwert wieder zahlreiche Zuhörer zur Vorstellung seines Erstlingsromans „Elli oder die versprengte Zeit“ ein, eine fiktive Erzählung, die geprägt ist von tiefgehenden Erlebnissen und Erinnerungen des Autors an eine vergangene Zeit in seiner donauschwäbischen Heimat Weißkirchen im heutigen Serbien.
Erwert ist Träger der Josef-Schlicht-Medaille und wurde vom Land Baden-Württemberg und der Donau-Schwäbischen Kulturstiftung für sein Werk ausgezeichnet. Einleitend berichtete Alois Bernkopf als Vertreter des AK unter anderem von eigenen traumatischen Fluchterlebnissen aus seiner Heimat Schlesien und stellte zwei der wichtigsten Publikationen von Erwert zur Regionalgeschichte im Landkreis Straubing-Bogen, das Buch „Feuersturm, Zigarettenwährung und Demokratie“ und „Niederbayerische Erfolgsgeschichte“ vor, und schilderte kurz die Flüchtlingssituation der Nachkriegszeit, als Deutschland acht Millionen Flüchtlinge aufnehmen und unterbringen musste.
Er habe lange geforscht, sagt Erwert, um deutlich zu machen, wie aus Frieden Krieg und aus nachbarschaftlicher Nähe Hass entstehen konnte, aber auch wie ungeheuer schnell Gewalt gegen Unschuldige vergessen werde. Die Kindheitserlebnisse der Flucht hätten ihn nicht mehr losgelassen und dazu bewogen, seine Erfahrungen öffentlich zu machen, auch als Mahnung für Versöhnung in einer unruhigen Zeit. In kurzen Passagen, unterbrochen von geschichtlichen Erläuterungen, charakterisierte Erwert seine Protagonistin Elli als junge, deutschstämmige Frau, die Anfang der 40er Jahre im Banat lebt, in der bunten Völkervielfalt des Gebietes zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn. Elli befreundet sich mit einem jugoslawischen Jagdflieger, nimmt teil an Gesellschaftsabenden, einer serbisch-deutsche Hochzeit, am interkulturellen Markttreiben. In malerischen Bildern, ausführlichen Milieu- und Landschaftsschilderungen zeigt Erwert, dass man gut miteinander lebt in der Kleinstadt Weißkirchen. Bis 1941 die deutsche Wehrmacht einfällt. Tumulte, Partisanenkämpfe, Vergeltungsschläge sind die Folge.
Drastisch beschreibt Erwert eine Erschießungsszene, das Grauen wird deutlich, die zivile Sicherheit ist bedroht. Als die russische Front vorrückt, stellt sich die schwere Frage: fliehen oder bleiben? Elli, inzwischen verheiratet und Mutter von drei Kindern, entscheidet sich für die Flucht. Auch er habe diese schreckliche Erfahrung gemacht, erzählt Erwert, sei als Elfjähriger mit der Mutter mit einem Bahntransport nach Westen geflohen „und irgendwo aus dem Zug geworfen worden“. Er hatte Glück und landete im oberpfälzischen Cham. Trotzdem habe ihn diese unumkehrbare Trennung für immer geprägt. Viele der Zurückgebliebenen hätten in Hungerlagern wie Rudolfsgnad dahin vegetiert, bis zum Tod oder der endgültigen Vertreibung. Erwert erzählt in seinem Buch „Elli oder die versprengte Zeit“ nicht nur ein beklemmendes Stück dunkler Geschichte. Er lässt die Zuhörer auch seine große Liebe spüren zu einer versunkenen „heilen“ Welt, einer Welt, in der Menschen der verschiedensten ethnischen Volksgruppen und Religionen friedlich und freundschaftlich zusammenlebten.
Quelle: Elisabeth Röhn
Vorankündigung mit youtube-Video
. . .Der Autor auf der Frankfurter Buchmesse
AK Heimatgeschichte und Förderkreis Bücherei Mitterfels laden ein:
Freitag, 2. März 2018, 19.30 Uhr im Burgzimmer des Burgmuseums Mitterfels
Eintritt frei
„Elli oder Die versprengte Zeit“ heißt Helmut Erwerts erster Roman. Bisher war er durch die Veröffentlichung von Lehrbüchern und wissenschaftlich fundierten Büchern insbesondere zur jüngeren Regionalgeschichte hervorgetreten. Daher scheint es naheliegend, wenn sein Roman auf historischem Hintergrund angesiedelt ist. Als Historiker hat er seit Jahrzehnten auch Romanstoffe mit sich herumgetragen - motiviert durch sein eigenes Leben. Rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse im Oktober des letzten Jahres konnte er sein Werk abschließen und dort präsentieren.
Seit vielen Monaten ist die öffentliche Aufmerksamkeit auf große politische Umbrüche im Nahen Osten gerichtet und mit Flüchtlingskrisen gewaltigen Ausmaßes konfrontiert. „Nach den unsäglichen Turbulenzen mit 14 Millionen eigenen deutschen Heimatlosen nach 1945 hätte niemand mehr solche Fluchtbewegungen erwartet.“ Dabei sei jede einzelne schutzbedürftige Person ein eigenes Schicksalsdrama für sich, manchmal eine Tragödie, könnte viele Seiten eines umfangreichen Romans füllen, meint Helmut Erwert. Hier reiht sich „Elli und Die versprengte Zeit“ ein.
Die umfangreiche Erzählung überschaut das vergangene Jahrhundert, die beiden Weltkriege mit Blick auf den Südosten Europas. Von der Jahrtausendschwelle wird Rückschau gehalten auf die 30-er und 40-er Jahre mit der kriegerischen Unterwerfung Jugoslawiens 1941 durch das Dritte Reich, dem Einmarsch der Roten Armee im Oktober 1944 und die Gewaltexzesse der Tito-Partisanen in ihrem Gefolge. Diese überindividuellen Verhängnisse spiegeln sich im Leben der Kleinstadt Weißkirchen/Bela Crkva im westlichen Banat, der Geburtsstadt des Romanautors, an der Nahtstelle zwischen Mitteleuropa und dem Balkan. Fünf Kapitel der Erzählung sind durch jeweils eine Seite mit Fotos zum Zeitkolorit illustriert.
Formal gesehen ist Erwerts Roman in eine Rahmenhandlung eingebettet: Im Auftrag des Internationalen Tribunals in Den Haag wendet sich der Brüsseler Diplomat Jérôme an seinen pensionierten Berufskollegen Ferdinand Weinhöpl, bittet ihn um Hilfe bei der Aufklärung über das Leben der Hauptperson Elli, die einen Briefwechsel mit einem gesuchten jugoslawischen Fliegeroffizier namens Tihomir Živković pflegte. Die Anfrage steht in Zusammenhang mit dem Internationalen Strafgerichtshof, der einem als Kriegsverbrecher Verdächtigen unter diesem Namen auf der Spur ist. Daraufhin erzählt Weinhöpl den Lebensablauf seiner Cousine, mit der er stets eng verbunden war. Motor seiner Darstellungen ist die Absicht, Elli von jedem Verdacht zu befreien. Er schildert ihre humane, allem Militärischen abholde Einstellung. Sie begegnet den in der Stadt lebenden Minderheiten interessiert und respektvoll und bewegt sich gewandt in ihren Milieus. […]
So entfaltet sich das Gemälde eines pulsierenden Lebensraums mit levantinischer Exotik. Eine heute längst durch den Schwund der deutschen, jüdischen und russischen Minderheiten in diesem Gebiet verarmte und durch Normierung, Massenkonsum und Globalisierung eingeebnete Welt feiert hier Auferstehung. Die Deutschen, die einst in Weißkirchen die Mehrheit bildeten, sind in ethnologischer, sprachlicher, kultureller und historisch-geografischer Hinsicht authentisch dargestellt, ebenso alle anderen Völkerschaften dieses multiethnischen Mikrokosmos’ – Serben, Kroaten, Bosnier, Tschechen, Ungarn und Rumänen, auch Juden, Zigeuner und Exilrussen.
Nur so viel sei der Lesung am 2. März 2018 im Burgzimmer vorweggenommen. Hier noch einige biografische Daten über den Autor: Aus der Geburtsheimat herausgerissen, verlor Erwert als Kind den Vater und die Großeltern durch Kriegsverbrechen, wuchs bei einer allein stehenden Mutter im Unvertrauten auf, entwickelte ein starkes Bestreben, sich neu zu verwurzeln. Zwanzig Jahre lang widmete er sich der jüngeren Geschichte seiner Zweitheimat in Niederbayern, schöpfte aus amerikanischen Quellen, um fundierte regionalhistorische Werke zu verfassen, für die er vom Kreistag des Landkreises 2015 mit der Josef-Schlicht-Medaille ausgezeichnet wurde. Die Vorgänge in seinem südosteuropäischen Herkunftsraum verlor er jedoch ebenso wenig aus den Augen wie sein Romanprojekt. Viel zu sehr brannte ihm das Schicksal seiner Generation, die Erinnerung an die verlorene Heimat auf der Seele. Er machte Interviews mit inzwischen verstorbenen Zeitzeugen aus Pannonien, las Quellen und zeitgeschichtliche Bücher, die er auswertete und rezensierte. Im Laufe besonders seiner Pensionistenjahre entstanden Gedichte und kleine Erzählungen, die ihm den epischen Raum öffneten, eine südosteuropäische Epoche mit ihren Lebenswelten und Mentalitäten, Polarisierungen, Umbrüchen und Katastrophen darzustellen. Dabei ist ein nahezu lebenslang gereifter Roman entstanden, der autobiografische Tatsachen und historische Hintergründe verflicht und personalisiert, in repräsentativen Figuren berührend individuell macht und ins Poetische hebt – in eine Fiktion, die gesättigt ist mit geschichtlicher Realität.
Wenn Sie sich ausführlicher mit dem Autor und seinem Roman beschäftigen wollen, klicken Sie auf den Link zu einem youtube-Video [. . . hier].
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