Kulturelles Leben
Kirchenstühle – ein protestantisches Kirchenmöbel erobert katholische Gotteshäuser
Spiegelbild der gesellschaftlichen Ordnung
Sitzordnungen gehören zu den umstrittensten Angelegenheiten in den niederbayerischen Dörfern – sei es im Wirtshaus, im Gemeinderat oder in der Kirche. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wer wo sitzt, sondern auch darum, wer bestimmt, wer wo sitzt. Wer die Sitzordnung bestimmt, setzt seine Sichtweise über die Ordnung einer Gruppe durch, demonstriert Macht und provoziert dadurch oftmals auch Streit. Diesen gibt es vor allem dann, wenn eine neue mit einer alten Ordnung konkurriert. Deshalb sind Streitigkeiten über Sitzordnungen für Historiker ein ganz spannendes Thema, denn sie sind ein ergiebiger Indikator für gesellschaftliche Wandlungen – ganz abgesehen von der Tatsache, dass Streitigkeiten Akten produzieren, wodurch wir erst von der Vergangenheit wissen können.
Vor allem die hoch entwickelte Bürokratie der katholischen Kirche hat zur Folge, dass die kirchlichen Archive voll von Akten sind, welche vergangene Streitigkeiten über Kirchenstühle beinhalten. Dabei sind Kirchenstühle ursprünglich eine ganz und gar protestantische Erfindung.
Die katholischen Gottesdienste des späten Mittelalters nahmen vergleichsweise wenig Zeit in Anspruch, für die seltenen Predigten gab es eigene Gottesdienstformen außerhalb der Eucharistie und außerdem war es nach dem Volksglauben sowieso nur notwendig bei der Wandlung anwesend zu sein und das Allerheiligste zu schauen. Die Anforderungen des katholischen Gottesdienstes an die körperliche Konstitution der Gläubigen waren deshalb gering, Kirchenstühle nicht notwendig.
Ganz anders war dies im Protestantismus. Martin Luther stellte die Heilige Schrift und die Schriftauslegung in den Mittelpunkt der Seelsorge, die Predigt hatte eine Stunde zu dauern. Um die längeren Gottesdienste auszuhalten, wurden deshalb Kirchenstühle eingeführt, die allerdings bei aller Bequemlichkeit doch so unbequem sein mussten, um den Predigtschlaf zu verhindern.
Das Desinteresse der katholischen Pfarrer
Von den evangelischen Kirchen verbreiteten sich die Kirchenstühle nun seit dem frühen 17. Jahrhundert in die katholischen Kirchen Mitteleuropas. Man kann diese Entwicklungsrichtung auch daran erkennen, dass es in den romanischen Ländern, die weit von den Zentren der Reformation entfernt lagen, kaum feste Bestuhlung in den katholischen Kirchen gibt. Für die katholischen Priester war die feste Bestuhlung deshalb attraktiv, da sie darin ein geeignetes Hilfsmittel sahen, die Gläubigen auch vor und nach der Wandlung in der Kirche zu behalten. Nach der Einführung der festen Stühle war ein Umhergehen in der Kirche bzw. das Verlassen der Kirche vor dem Ende des Gottesdienstes schwerer möglich.
Aber dadurch stellte sich akuter als vorher die Frage nach der Ordnung der Gemeinde in den Kirchenstühlen. Zunächst interessierte das die Pfarrer wenig. Abgesehen von reservierten Stühlen für kommunale, kirchliche und herrschaftliche Würdenträger konnten sich die Gläubigen ihre Plätze selber suchen. Die Ordnung, die sich etablierte, entstand aus den sozialen Bedürfnissen der Gemeindemitglieder selbst. Dabei war es für die Bauern gar nicht wichtig, wo sie saßen, sondern vielmehr wie viele Sitze ihnen zur Verfügung standen. Je größer der Grundbesitz eines Bauern, desto mehr Kirchenstühle beanspruchte er für sich, seine Familie und die Dienstboten. Ein Bauer konnte auch mehr Kirchenstühle beanspruchen, als er benötigte. Für die einen war das bloße Angeberei, für die anderen eine Einnahmequelle. Denn die Kirchenstühle, für die das Stuhlgeld an die Kirchenkasse zu zahlen war, wurden nicht nur vererbt und unter den Bauern verkauft und vertauscht, sondern auch untervermietet. Sie wurden als Teil des Hofes betrachtet.
Gerieten die Gemeindemitglieder wegen der Kirchenstühle in Streit, was oft genug geschah, mischten sich die Geistlichen zunächst nicht ein. Sie fühlten sich davon belästigt und wollten die Verantwortung dafür an die weltlichen Herrschaftsträger abwälzen. Als die Gergweiser wegen der Kirchenstühle in Streit gerieten, äußerte der zuständige Dekan von Künzing (Kreis Deggendorf) in einem Schreiben an das Ordinariat in Passau am 18. April 1759, dass er geneigt sei, dem Hofmarksherrn „die Austhaillung deren Kirchenstüllen zu überlassen, weillen bey Abgang deren und da man nit jedes Pfarrkind versehen, dem Pfarrer ausser des Verdruss kain anderes Utile [Nutzen] zuegehen könne“. Diese Stellungnahme zeigt sehr deutlich, dass das Kirchengebäude keine rein kirchliche Angelegenheit war, sondern dass das Gotteshaus als öffentliches Gebäude zu den Gegenständen gemischter Zuständigkeit von kirchlichen und weltlichen Herrschaftsträgern gehörte – was insbesondere das Kirchenschiff, den Platz der Gläubigen, betraf.
Die Trennung von Bauern und Bürgern
Die seit dem späten 17. Jahrhundert bemerkbaren Bemühungen zur Rationalisierung der Sitzordnung in den Kirchen gingen dann auch nicht von den Geistlichen aus, sondern von kommunalen und staatlichen Herrschaftsträgern – und zwar nicht auf den Dörfern, wo aus deren Sicht sowieso nur Bauern lebten, sondern in den ländlichen Märkten und Kleinstädten, wo Bürger und Bauern gemeinsam den Gottesdienst besuchten. Wenn aber Bürger und Bauern durcheinander saßen, so störte dies die gesellschaftliche Ordnung, die auch im dritten Stand noch Hierarchien aufwies und den Bürger über den Bauern stellte. Im fürstbischöflich-passauischen Markt Untergriesbach (Kreis Passau) beschwerte sich der Gemeinderat 1709 dass „die Paurn voran in denen Stüellen sizen, sie hingegen als Rathsverwandte bei der Khirchenthier ohne Stüell stehen miessen“. Wenige Jahre vorher war es im nahen Markt Obernzell (Kreis Passau) ebenso gewesen. Dort hatte sich der fürstbischöflich-passauische Pfleger bereits 1705 über die dortige „Unordnung“ beschwert, „indeme die Beurin balt zu forderst in der Khürchen und die Burgerin, wanns auch schon ein Rathsfrau ist, zu hinderst sizen thuet“. Was über hundert Jahre kein Problem war, wurde nun, im ordnungsfanatischen, mechanisch schematisierenden, tabellierenden 18. Jahrhundert zum Skandal. Es wurde deshalb eine Ordnung eingeführt, wonach die Bürger vorne und die Bauern hinten in der Kirche saßen. Die Bauern murrten zwar, beruhigten sich aber, sobald ihnen klar wurde, dass sie weiterhin genügend Sitze haben würden. Und wo sie in der Kirche saßen, war ihnen ohnehin egal.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts mischten sich die Pfarrer dann immer mehr in die Ordnung der Kirchenstühle ein. Dies hatte drei Gründe. Je länger die Kirchenstühle in den Gotteshäusern standen, wurden sie immer mehr Mittel im Streit, wenn es zu solchem zwischen Pfarrern und Gemeindemitgliedern kam. In Gottsdorf (Kreis Passau) etwa verweigerte der Bauer Thomas Jungwürth dem Pfarrer im Frühjahr 1753 den diesem zustehenden Zehenthafer. Daraufhin ließ der Pfarrer kurzerhand einen Schreinermeister kommen, der den Kirchenstuhl des Bauern heraussägen musste. Der Bauer beschwerte sich deshalb beim Passauer Bischof, dass ihn seine Nachbarschaft nun „gleich einen Excommunicirten halten und beglauben will, das entweder lutherische Buecher bey mir oder sonst der Kezerey schuldig erfunden und unwürdig geachtet worden, unter der christcatholischen Gemeinde in der Kürchenversammlung einen Sitz zu haben“.
Der zweite Grund, warum sich die Pfarrer immer mehr für die Kirchenstühle interessierten, lag daran, dass sie immer stärker darum bemüht waren, konkurrierende, staatliche oder kommunale, Herrschaftsträger aus der Zuständigkeit für das Kirchengebäude zu verdrängen und dieses ganz unter die eigene Kompetenz zu bringen. Dies zeigte sich, als der Pfarrer von Niedernhausen im Markt Simbach (Kreis Dingolfing-Landau) im Jahr 1766 gegen den Willen des Gemeinderates eine neue Sitzordnung einführte.
Beruf und Alter als Ordnungskriterien
Dabei begnügte sich der Pfarrer nicht mehr damit, die Bauern von den Bürgern zu trennen und sie hinter diese zu setzen. Er ordnete die Bürgerschaft nach Berufen und innerhalb der Berufe nach Alter. Die vollbesetzten Kirchenstühle glichen einer dreidimensionalen Tabelle der sozialen Verhältnisse in der Gemeinde. Aus den barocken Ordnungsbemühungen war aufklärerisches Systematisierungsstreben geworden. Das ging nicht ohne Streit. Wie der zuständige Dekan, Pfarrer Christian Seitz von Arnstorf (Kreis Rottal-Inn), beklagte, habe der Simbacher Vikar dadurch „solch Leuth zusammen stellen wollen, welche ohnedem nit gar freundlich miteinander leben“. Einige Simbacher Bürger sahen in einem Schreiben an das Passauer Ordinariat voraus, dass „sich die dermahlige Confusion in Feindschafft und Thättlichkeiten ausbreitten dürffte“. Sie beschwerten sich darüber, dass „bald disem der seine [Stuhl] verändert, einem andern gelassen, widerum einem andern sein durch paar ausgelegtes Geld und schon lange Jahr in Besüz gehabter Stand ohne Restitution eines Kreuzers zu nit geringer Bestürzung solcher auch alten Persohnen unbillichist, ja unverantwortlich ganz und gar abgenohmen und mithin zu jedermans Ärgernuß recht muethwillig und unnöttiger Dingen ein solcher Tumult und Confusion in der Gemeinde erwöket worden, daß dieser Gott geheiligte Ohrt mehr einem Kauff- als Gotteshauß gleich gesehen“.
Indem sie das lokale Herkommen verletzten und Streit provozierten, waren die Geistlichen offenbar auf der Suche nach rationalen, intersubjektiv überprüfbaren Kriterien, mit deren Hilfe sie die Gemeinde gliedern konnten. Dies führt zum dritten Grund, warum sich die Pfarrer immer mehr für die Sitzordnungen in den Kirchen interessierten. Wenn die Geistlichen eine Pfarrei übernahmen, waren sie fremd. Sie kannten die Leute nicht. Eine Sitzordnung nach rationalen Kriterien erleichterte den Pfarrern das Kennenlernen und das Verständnis ihrer Pfarreien. Deshalb machte eine solche rationale Ordnung nur dann Sinn, wenn sie nicht nur für eine Pfarrei und in jeder Pfarrei nach anderen Kriterien, sondern bistumsweit nach einheitlichen Kriterien durchgeführt wurde. Und tatsächlich versuchte eine bischöflich-passauische Verordnung aus dem Jahr 1788 dann diese bistumseinheitliche Ordnung. Dabei war am Ende des ständischen und am Vorabend des kapitalistischen Zeitalters das einfachste und transparenteste Mittel zur Gliederung der Gemeinde das Geld. Es wurden einfach drei Kategorien von Kirchenstühlen zu 8, 10 und 12 Kreuzern jährlich eingeführt. Wer mehr Geld besaß, konnte sich die teuren und besseren Stühle in der Nähe des Hochaltars leisten. Reiche Bauern erschienen nun wertvoller für Gott und die Kirche zu sein als Arme. Das ist vor allem deshalb spannend, da damit über ein ursprünglich protestantisches Kirchenmöbel eine spezifische Dimension reformierter Spiritualität in die katholischen Kirchen Einzug hielt. Außerdem nahmen die Streitigkeiten dadurch zu. Denn seither war nicht mehr nur die genügende Anzahl der Sitze wichtig, sondern auch noch die Lage der Sitze im Kirchenraum. Der Pfarrer von Vornbach (Lkr. Passau) stellte deshalb sein Kirchenstuhlregister im Jahr 1837 unter das resignierte Motto „Geduld überwindet alles“. Die von den Pfarrern selbst gerufenen Geister ließen sich nicht mehr so einfach verscheuchen!
Dabei hatte die Passauer Regelung von 1788 den Nachteil, dass eine gewisse Unsicherheit darüber bestand, ob das von den Gläubigen für die Kirchenstühle tatsächlich ausgegebene Geld auch ihrem ökonomischen Vermögen entsprach. Die Lösung dieses Problems stellte der bayerische Staat mit der Einführung der Grundsteuer, einer der bedeutendsten finanzpolitischen Modernisierungsleistungen des frühen 19. Jahrhunderts, zur Verfügung. Mit Hilfe der Grundsteuer ließ sich die Pfarrgemeinde in den Kirchenstühlen nach transparenten und unbestechlichen Kriterien gliedern. In Holztraubach (Lkr. Straubing-Bogen) erfolgte die Verteilung der Kirchenstühle nach der Grundsteuerleistung seit 1844. Je geringer die Grundsteuerleistung, desto weiter entfernt saßen die Gläubigen vom Hochaltar.
Die Geistlichkeit als Modernisierer
Die Geschichte der Kirchenstühle und der von ihnen provozierten Streitigkeiten zeigt, dass sie immer Spiegelbild der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung waren. Vor allem aber zeigt sie, dass der katholische Klerus auch in dieser Hinsicht entgegen seiner vor allem im späten 19. Jahrhundert gepflegten Selbstwahrnehmung als Schutzmauer gegen jede Art von Modernisierung vor allem auf den Dörfern als Motor gesellschaftlicher und kultureller Modernisierung auftreten konnte. Wem es heute als besonders altertümlich erscheint, dass sich in den Kirchenstühlen gesellschaftliche Hierarchien widerspiegeln, soll sich bewusst machen, dass es sich dabei um ein sehr junges Phänomen handelt, das die Geistlichkeit erst voll im 19. Jahrhundert gegen Widerstände aus den Gemeinden durchgesetzt hat.
Quelle: Dr. Johann Kirchinger, Kreisheimatpfleger; in: BOG Zeitung vom 6. August 2016 (Zeitversetzte Übernahme aufgrund einer 14-tägigen Sperrfrist.)
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