Museen
Ein Holzbirnbaum erzählt
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Versuch, einen Birnbaum in einer uns verständlichen Form erzählen zu lassen
Dem Leser wird es schon ungewöhnlich vorkommen - ein Birnbaum und noch dazu ein ziemlich unnützer für den Menschen - hätte etwas zu erzählen. Da aber ...
... im Allgemeinen der Mensch die Sprache der Bäume, Sträucher, Pflanzen und Tiere nicht versteht, ist hier der Versuch unternommen, einen Birnbaum in einer uns verständlichen Form erzählen zu lassen:
„Mein Alter, um mit dem zu beginnen, kann ich nicht genau sagen. In meinen ersten Jahren wurde ich von vorbeikommenden Ziegen, Rehen und Hasen so oft verbissen, dass ich schon meine Hoffnung aufgab, je ein ansehnlicher Baum zu werden. Aber dann kamen doch ein paar Jahre, in denen ich genug ‚Stacheln‘ - die in meiner Jugend für solche Zwecke notwendig sind - ausbilden konnte, um mir die gefräßigen Feinschmecker vom Leib zu halten. Das alles könnte vor etwa 300 bis 400 Wintern gewesen sein.
Mein ganzer Lebensablauf richtet sich nach dem Stand der Sonne, sowohl jeden Tag, als auch das Jahr über. Meine inneren Abläufe sind am Morgen andere als am Abend. Dies bemerkt keiner, aber es ist halt so. Meine Veränderungen im Jahresablauf sieht jeder Mensch.
Den tiefsten und den höchsten Sonnenstand im Jahr kann ich an der Länge meines Schattens genau sagen. Meine schwerste Zeit habe ich, wenn der Schatten lang ist. Wegen Lichtmangel werfe ich Wochen vorher schon die Blätter ab. In manchen Jahren fällt wenig Schnee und wenn es dann stark frostet, drohen meine Wurzeln abzureißen. Viel Schnee tut mir gut, weil dann im Frühjahr meine Füße schnell Wasser bekommen. Mit der höher steigenden Sonne kommt die Wärme, dann traue ich mir, auch die im Vorjahr eingewinterten Knospen zu öffnen.
Ganz vorne habe ich die weißen Blüten, die ich alle Jahre zuerst öffne, um die Insekten anzulocken, die dann meine Stempel befruchten. Meine zugegebenermaßen sehr kleinen Birnen waren für meine früheren Besitzer als Dörrobst eine gefragte Vitaminquelle den Winter über. Aber nicht immer bin ich in der Lage Birnen auszureifen. Das Wetter, von dem ich als freistehender Baum abhängig bin, hat mir manchen Trief angehängt. Als extremstes Jahr meines langen Baumlebens kann ich das von 1929 bezeichnen. Zuerst ein äußerst kalter Winter und dann - am 4. Juli - ein Hagelwetter, das mir alles Grüne abgeschlagen hat. Ende August begann ich damals wieder zu blühen. Niemand braucht sich unter diesen Umständen über meine knorrigen Verwachsungen zu wundern.
Von meinem Birnbaumleben gibt es auch Schönes und Interessantes zu erzählen. Als standortgebundenes Wesen könnte man meinen, ich wäre über das Geschehen in dieser Welt nicht informiert. Weit gefehlt! Mich besuchen Vögel, die weiter gereist sind, als sich ein Mensch vorstellen kann. Zum Beispiel der Seidenschwanz, der mir im Winter die Schädlinge aus der Rinde piekt und mir dabei von seiner Brutgegend erzählt. Dort ginge die Sonne nicht unter, und im Norden sähe er nur Eis und Schnee. Es hieße Sibirien, meint er.
Der Frühling ist dann die Zeit, in der ich meinen gefiederten Freunden manche Astgabel als Brutplatz anbiete. Die Schwalben stürzen in meinem Windschatten nach den Mücken und zwitschern von ihrer Winterreise, die so weit ist, dass man bei Nacht andere Sterne am Himmel sieht, als bei uns. Um auf die Gesundheit zu kommen - mit der ich zufrieden bin - die aber unter dem Umstand leidet, dass mir der Mensch eine Stromleitung sehr nahe an meine Äste gelegt hat. Erleichterung schaffe ich mir dadurch, dass ich an dieser Seite meine ‚Arme‘ kürzer mache.
Dem Vater meines jetzigen Besitzers verdanke ich übrigens in diesem Zusammenhang meine Existenz. Wegen dieser Stromleitung - der ich 1954 im Wege stand - wurden ihm 100 Mark geboten, wenn er mich umschnitte. Trotz Geldmangel lehnte er dies gleich massiv ab.
Größte Angst bekomme ich, wenn die Maschine des Menschen zu hören ist, die vorne eine Kette hat, hinten raucht und einen Höllenlärm macht. Und noch etwas! Seit der Mensch nicht mehr auf meine Birnen angewiesen ist, sehe ich ihn nur mehr alle 3 Jahre in einem Bittgang um gutes Wetter beten. Das bedeutet für mich - jetzt scheinbar Unnützen -, dass ich gefährlicher lebe; denn eigentlich stehe ich der Landwirtschaft im Wege.
Aber - mein jetziger Besitzer hält zu mir."
Kleinkohlham, auf freiem Feld, im Mai 1995
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