Kulturelles Leben
Sankt Georg in Mitterfels als Architekturmodell
Ein irakisch-deutsches Projekt
Treffen sich zwei Architekten aus Bagdad und ein Kunstpädagoge in Niederbayern - Was bauen sie? Natürlich eine katholische Barockkirche im Maßstab 1:50. Die Marktgemeinde Mitterfels ist um eine kleine Attraktion reicher. Das Original steht seit dem Jahr 1734 am Mitterfelser Schloss.
Seit Februar 2016 gibt es im MONDI-Treff Mitterfels das Atelier für Kunst und Kreativität (Mitterfelser offene Nachmittage der Integration). Hier treffen sich Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien und Afghanistan wöchentlich zum Malen, Zeichnen oder Basteln. Es gibt ein Kinder- und ein Erwachsenenangebot.
Ebenfalls im Februar 2016 stießen die Architekten Ameer Hani Abdulhussein (27) und Ali Adel Abdulkhalek (25) hinzu. Beide stammen aus Bagdad und arbeiteten dort bereits an zahlreichen Projekten - Schulen, Kranken- und Wohnhäusern, bevor sie im Oktober aus ihrer Heimat über die Balkanroute nach Deutschland flohen. Gemeinsam erkundeten sie ihre neue Umgebung fotografierten und entdeckten den spätbarocken Bau der Kirche St. Georg am Mitterfelser Schloss.
Begeistert von der Idee, ein Architekturmodell der Kirche im Maßstab 1:50 zu bauen, baten Ameer Hani und Ali Adel Michael Witte um Unterstützung bei der Umsetzung ihres Plans. Zunächst mussten von der Mitterfelser Pfarrei die Originalpläne beschafft und abfotografiert werden. Pater Dominik stellte die Pläne schnell und unkompliziert zur Verfügung. Er trug somit zur maßstabsgetreuen Umsetzung bei. Was folgte, waren beinahe sechs Monate des Lernens und Experimentierens.
Ameer Hani (links hinten), Michael Witte (links vorne) Ali Adel (rechts) /Foto: Elisabeth Röhn
Die Pfeiler abendländischer Bautradition - Versuch und Irrtum
Probleme, welche die ungewohnte Bauform an die Architekten stellte, mussten gelöst werden. Das geeignete Material und Werkzeug war zu beschaffen, Farben und Details mussten stimmen, denn das professionelle Selbstverständnis der Architekten lässt hier wie dort im Irak wenig Spielraum für künstlerische Freiheiten. Die beiden Perfektionisten verbringen viel Zeit mit ihrem Modell, lernen jedoch auch intensiv Deutsch, schreiben Gedichte und bepflanzen einen kleinen Schrebergarten für die Bewohner der Asylunterkunft. So zieht sich das Projekt über einige Monate. Schließlich - ein gewisser Mut zur Lücke, man passt sich den Gegebenheiten an - durfte es dann doch etwas mehr kreative Freiheit sein. Dem Eindruck, den das Ergebnis bei seiner ersten Präsentation am 23.09. im MONDI gemacht hat, tat es keinen Abbruch.
Wer sich auf die barocke Formensprache einlässt, bekommt es mit besonderen Problemen beim Modellbau zu tun. Als die runden, geschwungenen Bauformen - bereits eine besondere Herausforderung - in der Fassade endlich gelungen waren, stellte sich die Fensterleibungen und schließlich das Dach unerwartet als besonders schwieriger Teil des Projektes heraus. Spezielle Materialien mussten her, neue Techniken erprobt, Lösungen gefunden werden. Mitteleuropäische historische Bauten sind im Modell offenbar nicht einfach mit irakischen Methoden umzusetzen - schon wieder ein Lernprozess.
Aber was treibt zwei Junge Männer, die kurz zuvor aus dem Irak geflüchtet waren an einem deutschen Wintertag dazu, den Beschluss zu fassen: "Wir bauen diese Kirche." Professionelles Interesse könnte man jetzt sagen oder schlicht die lange Weile. Von beidem hatten Ameer Hani und Ali Adel genug übrig. Aber natürlich steckt mehr dahinter.
Fremdartige Zeichen, Bilder, Rituale - wie knackt man den Code?
Menschen, die über ihre Kindheit und Jugend hinaus bildnerisch tätig sind, können die Dinge ihrer Umwelt erfassen, indem sie zeichnen, malen, fotografieren, formen oder eben Modelle bauen. Sie können Unbekanntes in ihre Bildsprache übersetzen, um es fassbar, begreifbar zu machen. Die bildende Kunst wird zur Quelle der Erkenntnis.
Ameer und Ali bauten ein Modell - ein Modell, das in ihrer neuen Lebenswelt das sakrale und kulturelle Zentrum von Städten, Dörfern und Gemeinden ist: die Kirche.Das ist kein Zufall. Die beiden Iraker nahmen den Kirchenbau in seiner kulturellen Bedeutsamkeit und historischen Dimension unmittelbar wahr. Dies ist die Mitte - seit Jahrhunderten. Wer die Mitte versteht, kann Kreise ziehen und die Umgebung erfassen und gelangt schließlich zu einem Gesamtbild. Die fremde Kultur wird verstehbar, weniger rätselhaft, fremd, weniger abweisend. Details rücken ins Blickfeld: die Kreuzform des Kirchenschiffs, die Dreiteilung von Turm und Dach, die Uhren am Gotteshaus, ein Kriegerdenkmal, Gedenktafeln an der Fassade. Und warum tragen Gotteshäuser Uhren an ihren Türmen? Hat das mit dem notorischen Hang der Deutschen zur Pünktlichkeit zu tun? Ja, hat es. Wo sonst lässt sich der kollektive Zeittakt besser ablesen und vorgeben als an dieser Stelle? All dies ist bemerkenswert und erklärt sich für die Iraker nicht von selbst. Die meisten Bauelemente enthalten bildhafte Kodierungen, die selbst Einheimische in ihrer Komplexität oft nicht durchschauen oder benennen können. Daraus ergeben sich Gebräuche, Weltbilder, Geschichten, die sich erzählen lassen und Geschichte, die sich erforschen lässt. Die Dinge sind nicht einfach so da, sie sind mit Bedeutungen aufgeladen. Der Bild-Code unserer mitteleuropäischen, christlich geprägten Kultur, ihre Ikonografie, braucht einen Übersetzer. In diesem Fall ist das der Kunstpädagoge. Welche Bildsprache(n) sprechen und verstehen wir? Wie verstehen wir sie? Wie gesprochene und geschriebene Sprache ist die Bildsprache Identität bildend, sinnstiftend , soziales Kontakt- und Bindemittel.
Ameer und Ali sprechen mittlerweile ganz ordentlich Deutsch. "Basst scho", bekommen sie in Niederbayern zu hören, wenn sie nachfragen, ob sie verstanden worden sind. Und sie verstehen, was das heißt. Aber Integration ist nicht einfach nur Deutsch oder sogar deutsche Dialekte lernen. Zumindest geben sich diese beiden intelligenten, gut ausgebildeten jungen Männer nicht damit zufrieden, im unbedingt notwendigen Maß Deutsch zu lernen. Unsere gebaute und oftmals verbaute Umwelt ist für die beiden als Architekten der erste Anknüpfungspunkt an unsere Kultur und an ihre Geschichte. Sie werfen einen Anker in unserer Kultur, indem sie diese Kirche gebaut haben.
Die zweite Funktion: ein Dokument der Zeitgeschichte
Für die Betrachter des Modells war es vor allem beeindruckend, mit welcher Geduld und Akribie es erschaffen wurde und wie ähnlich es dem Original war. "Schön, was die da gemacht haben!" Nun ist es da. Aber was macht man jetzt damit? Es zeigen, ausstellen. Zunächst ist die Präsentation nach einem Gottesdienst in der neuen Mitterfelser Pfarrkirche geplant. Pater Dominik lud die beiden Moslems dazu in die Kirche ein. Man könnte es bei vielen weiteren Gelegenheiten im Ort aber auch überregional bekannt machen.
Wünschenswert wäre es natürlich auch, wenn Kollegen von Ameer und Ali das Modell zu Gesicht bekämen. Als Probearbeit für eine Bewerbung ließe es sich schon hernehmen. Schließlich wollen die beiden in Deutschland keine Künstler werden, sondern in ihrem erlernten Ingenieurberuf arbeiten. Das ist die Gegenwart.
Die Zukunft: Herbst 2055. Zwei ehemalige Flüchtlinge aus dem Irak bereiten sich auf ihren verdienten Ruhestand vor. 40 Jahre ist es her, dass sie die Heimat das Mittelmeer, den Balkan hinter sich ließen und mit vielen hunderttausend anderen in ein selbstgenügsames Deutschland kamen, das sich in der Folge selbstverständlich weder selbst abschaffte noch in Luft auflöste, sondern notgedrungen lediglich einige Selbstgewissheiten aufgeben musste (aber dazu an anderer Stelle mehr). In diesem Herbst 2055 findet die Kuratorin des Mitterfelser Museums (eine gebürtige Syrerin) auf dem Dachboden des Museums ein verstaubtes Modell der Kirche St. Georg. Was für ein Fund für die Ausstellung zum Thema "Flucht aus der Heimat - 40 Jahre danach".
Quelle: kunstraupe.de
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