Begegnung mit Menschen (5). Gustav Kelber - der unbekannte Dichter

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Dr. Gustav Kelber an seinem Arbeitsplatz (1961) - Vergrößern durch Anklicken!

Der Richter und Dichter Gustav Kelber verbrachte 31 Jahre seines Lebens in Mitterfels

Das „Mitterfelser Magazin” übernimmt diese von Dr. Rupert Sigl verfasste Hommage (Straubinger Tagblatt, 15. Juli 1971) mit Erlaubnis des Autors, weil selbst vielen Mitterfelsern Dr. Gustav Kelber und sein Werk unbekannt sind.

 

Wir haben uns erlaubt, den Artikel in Abschnitte zu gliedern und ein Gedicht Paula Kelbers, der Gattin Dr. Gustav Kelbers, abzudrucken. Die Fotos wurden uns vom Enkel Dr. Kelbers, Herrn Ernst Kelber, zur Verfügung gestellt. (Redaktion Mitterfelser Magazin – veröffentlicht in: MM 7/2001)

 

. . der große Unbekannte

„Alle Lieder des Jahres begleiteten ihn auf dem Wege zum Meere, und sommernächtlich wurde er selber zum Lied.”

Der Bayerische Wald hat schon viele Sänger geboren, gefunden, verloren. Johannes Linke und Siegfried von Vegesack, der eine lebte vor, der andere seit dem Ersten Weltkrieg im Walde drinnen; der Bleibendes stiftende Hans Carossa auf Goethes Spur und seiner unsterblich geliebten Freundin, Emmerenz Meier; die drei mit dem Vornamen Max: Matheis, Peinkofer und Maximilian Waldschmidt; wie Franz Schrönghamer-Heimdal, Dichter nach dem Herzen des Volkes; der getreue Schilderer des „Hochwaldes”, Adalbert Stifter, und sein stürmischer Landsmann Hans Watzlik; der geniale, viel zu sehr verkannte Georg Britting, der Meister sprachlicher Zucht aus der Stadt am Regen, in der einst das Wessobrunner Gebet und das Rolandslied aufgezeichnet wurden. Mit den Besten kann sich messen der heimlichste Sänger, der große Unbekannte, verloren schon noch ehe er gefunden wurde. Doch lassen wir uns zuerst seinen Künstlerpass vorweisen. Könnte das Gedicht nicht von Hans Carossa, von Georg Britting sein? Welcher Dichter kann eine so schlichte, klare und bildersatte Sprache vorweisen wie er, der große Unbekannte?

              In der Kirche

  • Fällt die Tür ins Schloß mit schwerem Schlage,
  • Abgeschieden bin ich von dem Tage.
  • O wie wardst du müde, Herz, so müde!
  • Sieh, aus allen Dingen quillt der Friede.
  • Eine Ampel, selbst in Nacht versunken,
  • Spendet tröstend ihren roten Funken.
  • In der Nische betet zur Madonne
  • Zweier Kerzen goldne Doppelsonne.
  • Über meine Bank im Säulenecke
  • Wirft der Schatten seine samtne Decke.
  • Von dem Turme über der Rotunde
  • Spricht die Glocke mit verhaltnem Munde.
  • ungestört vom einzigen Verweiler
  • Huscht die Schwalbe durch den Wald der Pfeiler.
  • In der Orgel silbernem Gestänge
  • Schlafen alle hohen Lobgesänge. -
  • Nicht vom Priester, nicht vom Volk gerufen
  • Wandelt Gott herab des Chores Stufen
  • Und die heilige Stille liegt gebreitet
  • Wie ein Teppich, den Er sacht beschreitet.

Das ist so schlichte, echte Poesie, wie sie nur den Meistern von hohen Gnaden und Graden eignet. Nicht eine Silbe, kein Wort ist nur gesagt, sondern alles in Bild geprägt, mit Sinn beladen. Der Dichter, ein Richter, der nach seinem Gewissen im Namen des Volkes sein Urteil über menschliches Tun fällt, tritt nach einem schweren Tag mit dem Unfrieden seiner Sorgen und als Richter seines Amtes zu Unrecht und zum Schaden des Volkes enthoben - um hier schon etwas von seiner Biographie einzuflechten -, zum Stummsein verurteilt, in die Kirche von Mitterfels, und begegnet hier dem Frieden, den ihm sein treues richterliches Gewissen zwar bestätigt, der ihn aber in den großen Konflikt mit seiner Zeit stürzt gegen seinen Willen, von der Macht geschlagen und „erschlagen” in der Seele, „O, wie wardst du müde, Herz, so müde!” Die Ampel, selbst in Nacht versunken, gibt das Motiv an. Auch der Dichter und Richter ist in die Nacht versunken. Sie spendet tröstend ihren roten Funken. In seinem Gewissen tröstet ihn in dieser Nacht der Seele ein anderes Licht. „Zu sehr hat mich die Pflicht mißbraucht”, klagt der Richter in einem anderen Gedicht. Und er erlebt in der dunklen Kirche, wie unmittelbar Gott zum Gewissen ist: Er wandelt herab des Chores Stufen und beschreitet die Stille wie einen Teppich und kommt ihm, dem Dichter und Richter entgegen. Er spricht mit seinem Gott . . .

Kein Bild ist in diesem großartigen, klangreinen, klaren Gedicht abgenutzt, alle und jeder Vergleich ist seine ureigenste Originalschöpfung: Ungestört vom einzigen Verweiler huscht die Schwalbe durch den Wald der Pfeiler! Oder die samtene Decke der Schatten über seiner Bank, die Doppelsonne der zwei Kerzen, die vor der Madonna beten. Alles ist Frieden, Stille, Harmonie selbst im Dunkel. In der Orgel schlafen alle hohen Lobgesänge. Durch diese Stille wandelt Gott herab des Chores Stufen zu dem stillen, müden, abgekämpften, zermürbten Beter, der dem Ewigen begegnet. „Stille wächst, des Gottes tiefste Sprache”, wie der große Unbekannte im Sommer 1941, ein Jahr bevor er auf des Führers Befehl wegen seiner richterlichen Unbestechlichkeit abgesetzt wurde, weil er nach Recht und Gerechtigkeit, gegen Gewalt und Terror richtete, sein Amt unbescholten verwaltete - in der Klosterkirche von Dießen, dem großen Meisterwerk Johann Michael Fischers, dichtet.

 

„Zu sehr hat mich die Pflicht mißbraucht”

Damals trug er ungemein schwer an der Last seines unparteiischen, wahrheitsliebenden Gewissens, das sich nicht beugen wollte und konnte und auch nicht beugen ließ. Ich hoffe, dass es mit Hilfe einiger Freunde in Mitterfels gelingt, gerade diesen Kampf um die Ehre des höchsten Amtes im Staate, durch einige Fakten aus den Gerichtsakten noch zu klären, an Hand von Beispielen veranschaulichen zu können.

„Bleib steinern, Herz und unbewegt, Verschlossner nur und ungesellter”, spricht er sich selber Mut zu in seiner ausweglosen Situation. In dieser Verzweiflung sehnt er sich, der Dichter und Richter nach dem Tode als Erlöser: „Und dann vergeßt, daß ich ein H e r z besaß . . .”

  • „Mich dünkt die Erde eine sanfte Hülle
  • Vor dem, was jeden Tag mich neu zerfraß:
  • Stumpfheit und Unsinn, Lüge und Gebrülle.
  • Vielleicht ist dies der Gnade höchstes Maß:
  • Gebettet liegen in der dunklen Stille
  • Bei allen denen, die man auch vergaß.”

Er bittet nicht nur um den baldigen Tod, sondern auch um einen schnellen Tod:

  • „Und eines fleh ich, selige Götter, euch:
  • Vergönnt den schnellen Pfeil mir der Artemis
  • Und nehmt mich sanft vom Licht des Tages,
  • Wie dieser Abend so schön entschlummert!”

Er spürt in sich, daß ihm „der Tod die erste Zeile ins Gesicht geschrieben . . .”

  • „Noch tobt um mich, dem ihr schon lang entfloht,
  • Der ekle Streit mit schonungslosen Hieben,
  • Um Pfund und Pfennig immer neu entlohnt.
  • Erbittert feilscht der Hehler mit den Dieben
  • Und nennt, was er erschlich, sein ehrlich Brot -
  • Wann nehmt ihr selig Aufgelösten drüben
  • Den neuen Gast mit in das stille Boot,
  • Vom letzten Ufer glücklich abgetrieben,
  • Vor ihm die Nacht und hinter ihm die Not?”

So sehr ist und war der Gewissenstreue in jener Zeit von Deutschlands tiefster Erniedrigung mit den Gewaltigen zerstritten, mit denen er sich in seiner Dichtung wie in einem heimlichen Tagebuch auseinandersetzt, damit er nicht mit ihnen das gleiche Brot des Unrechts esse, dass er sich einen Grabstein wünscht, der ihn ganz von diesem Unrecht, von Erde und Ende trennt, damit er ganz ausgelöscht und ungestört von dieser Zeit und ihren Zielen in seinem Grabe ruhen könne:

  • „Wenn ich gestorben bin, so legt die Platte
  • Aus schwarzem Stein mir sorgsam auf die Gruft
  • Und zieht darum die ernste Buchsrabatte.
  • Fugt mir den Stein genau, daß nicht dem Duft
  • Des neuen Tags sich mein Verwesen gatte.
  • Nichts hat der Tod gemein mit Licht und Luft.
  • Daß nicht der Fall von einem Rosenblatte,
  • Daß nicht der Schritt von irgendeinem Schuft
  • Ganz ausgelöscht zu sein mir nicht gestatte”.

Der Leser verzeihe mir, dass ich lieber den Dichter und Richter seiner Zeit und Zeitgenossen zu Worte kommen lasse. Sie selber haben ein Anrecht, die Stimme des heimlichen und unbekannten Poeten zu hören, da von seinen unzähligen, hunderten klangreinen, wirklich klassischen Versen, soweit ich bislang feststellen konnte, nur ein einziges Gedicht, 1939, und dieses unter dem Decknamen Ernst Mattern (in Velhagen & Klasings Monatsheften, 44. Jhrg. Heft 8) veröffentlicht wurde. Sie sollen sich selbst ein Urteil bilden können über die Qualität dieser Verse. Dann wird es Ihnen nicht schwer fallen, diesen heimlichen Dichter zu den besten Poeten jener Jahre zu zählen. Er wünscht sich nicht nur einen Grabstein, der ihn ganz dem anderen, ewigen Reiche zuteilt, sondern vergleicht sich sogar mit einem Stein, der gleichgültig gegen altgewohnte Plage, gewappnet gegen Sturz und Stoß ist und sich doch nach den Brüdern sehnt:

  • „Wir dauern aus, wir Abgesprengten, Bangen . . .
  • Du tust, als spürtest du es nicht . . .
  • Du bist nicht tot, wie alle um dich meinen,
  • Nicht ohne Atem und Gesang.
  • Auch du begehrst vielleicht dich zu vereinen.
  • Und sehnst dich, Stein, nach deinen Brudersteinen,
  • Von denen Kälte dich und Meißel zwang . . . ”

Sein Glück im Unglück ist es, dass er die „lacrimae rerum” in Poesie zu kleiden vermag. Ihm geht es, dem Unbekannten wie dem Dichter Platen, von dem er singt und sagt:

  • Von Kind auf mit der Götter Fluch beladen,
  • Gelockt, gequält durch niegestillte Dränge,
  • Stieß dich der Abscheu und der Hohn der Menge
  • In deines Schönheitsreiches kühle Gnaden.
  • Du wußtest um der Parze düstren Faden,
  • Der Götteradler blutbenetzte Fänge;
  • Doch der Erbarmer schenkte Dir Gesänge,
  • Von aller Menschenqual dich rein zu baden . . .
  • Die Leiden wurden und die Wonnen stumm . . .
  •                                           „ . . . und in dem Lied bist du”

 

Wer war Dr. Gustav Kelber?

Wer ist dieser große Unbekannte, dem der Tod in jener Auseinandersetzung mit den Gewaltigen, deren Recht er sprechen sollte, „die erste Zeile ins Gesicht geschrieben” und der doch ein Alter von 80 Jahren erreichte?

Am 5. Dezember 1961 war in der „Bogener Zeitung” zu lesen: „Bis vor wenigen Wochen konnte man, das Wetter mochte wie immer sein, einen in sich gekehrten, aber trotz seiner 80 Lebensjahre noch immer stattlichen Mann auf einsamen Spaziergängen durch die weitere Umgebung von Mitterfels beobachten, dem nur noch Gottes freie Natur etwas zu sagen schien, nicht aber die Menschen, die er in ihrer oft so unergründlichen Abgründigkeit kennen lernen musste und die ihn immer wieder einmal zutiefst enttäuschten. Gestern ist nun Herr Oberamtsrichter i. R. Dr. Gustav Kelber nach einem vorangegangen Schlaganfall im Krankenhaus Bogen gestorben...”

Am 24. Oktober 1881 in München als Sohn des damals höchsten evangelischen Würdenträgers in Bayern, Dr. Julius Ritter von Kelber geboren, fühlte er sich schon in seiner Jugend, im kunstbeflissenen Elternhaus, während seiner Studien in München und Erlangen zu musischen Menschen und musischen Bereichen hingezogen und hatte engen Kontakt zu einer evangelischen Künstlergruppe, wo man Musik, Dichtung und Architektur genauso wie Plastik und Malerei liebte und pflegte. Hier liegt wohl schon das Fundament für seine Weltweite, Aufgeschlos­senheit. Wir haben ihn unseren Lesern in seiner tiefsten Schmach und Erniedrigung mit dem Gedicht „In der Kirche” vorgestellt. Seine schönsten Gedichte sind jedoch klassischen Themen gewidmet, wie allein schon Titel wie „Tempel in Paestum”, „Und die Sonne Homers”, „Die Brüste der Helena”, „Pan”, „Venus von Botticelli” verraten - und das sind ganze Gedichtsammlungen. Er hat nicht nur den Bayerischen Wald verherrlicht: „Auf dem Hirschenstein”, „Waldtümpel”, Wanderungen geschildert. In Aberhunderten von Versen, in denen er sein für alles Schöne aufgeschlossene Wesen und die Liebe zu Gottes ur­igenster Natur hinausjubelt, vom Staunen ergriffen, besingt er diesen seinen Wald. Musikern „Bruckner”, „Orgelsuite von Reger”, Dichtern, herrlichen Architekturen zuliebe schlägt er seine Lieder, seine Laute, deren zwei neben dem Klavier in seiner Künstlerwohnung hingen. Nationale und religiöse Motive sind ihm so wenig fremd wie Landschaftsbilder, Naturstimmungen, die eben den echten Lyriker kennzeichnen.

Den Ersten Weltkrieg, über den er so erschütternde Verse schrieb, dass wir sie nie mehr vergessen können und dürfen, machte Kelber von Anfang an bis zum bitteren Ende bei einer Nachrichtenabteilung aktiv mit. Schon in seinem Sonett „Weltkrieg” kündigt sich uns sein künftiger Zusammenstoß mit dem Dritten Reich als unausbleiblich an: „Ein Mann ist wer nach Mannsrecht tut”, wie sein Volker rühmt. Der Freund der Dichtung spürt gerade aus diesem Gedicht die expressionistische Stimmung und Sprache:

              Weltkrieg

  • Wir stehen alle unterm Henkerbeil
  • Und würfeln um des Aufschubs Spannenlänge;
  • Das Schicksal schreit die Nummern in die Menge,
  • Drückt auf den Knopf und hält die Köpfe feil.
  • Und ringsum rast des Publikums Geheul,
  • Der Mitverdammten johlende Gesänge.
  • Und wen es traf, der tritt aus dem Gedränge
  • Und hat an nichts Vergänglichem mehr teil.
  • Die sich den Seinen dürstend angehangen,
  • Wer hat sich an den Lippen sattgeküßt,
  • Der Freude tausend Wege ausgegangen?
  • Wer säumte nicht den bessern Teil der Frist?
  • Das Spiel ist aus, kaum daß es angefangen
  • Und alles endet auf dem Blutgerüst . . .
  • Vier Jahre flohn, verlogen und verdorben!
  • Wie hofften wir, indes wir weiter rangen,
  • Des Tages, der zersprengte unsre Zangen!
  • Zwei Millionen sind dafür gestorben.
  • Die Beule barst. Was haben wir erworben?
  • Der Dieb ist Henker, die Bestohlnen hangen.
  • Das Menschentier durchbrach die Eisenstangen
  • Und schlingt und giert und wird als Herr umworben.
  • Ihr Sonnen, die ihr über Pein und Lüste
  • Gelassen schwingt die diamantnen Kreise
  • Und strahlt uns auf und taucht ins Meer zur Rüste:
  • Noch immer dröhnt das All von eurer Weise,
  • Wenn längst die Erde ward zur kahlen Wüste
  • und alles Menschenwerk schläft unterm Eise.

Aus dem Kontrast zum Morden des Krieges finden wir den Dichter, der auch im Felde sich viele Verse abrang, auf der Spur des Lebens, der Freude („Wer hat sich an den Lippen sattgeküßt, Der Freude tausend Wege ausgegangen?”). Auf diesem Wege stößt er ins Kosmische vor, in das ewige All, das immer noch bestehen wird als des Gottes Schöpfung, wenn die Menschen die Erde zur kahlen Wüste machen und ihr Menschenwerk unter ewigem Eise schläft. Der Tod ritt durch das Land, „aber wir sind ihm entgangen und wir heben den Kopf...”

  • Über den blühenden Auen
  • Schwangen die Glocken des Seins:
  • O du Süße der Frauen,
  • O du Herbe des Weins!
  • Fort mit dem Reimen und Sehnen!
  • Sieh, es fallen wie Stein,
  • Alle die klingenden Tränen
  • Vermischen die Toten hinein.

Was blieb von dem Kriege übrig? Tote, Tränen und „am Sonntag nach dem Hochamt früh bereden’s manchmal die Alten . . .”

Die Jahre des sogenannten „Wiederaufbaus” erlebte Dr. jur. Gustav Kelber als sehr rasch bewährter Richter in Straubing, wo er im Regensburger Haus wohnte und ein enger Freund des späteren Oberbürgermeisters Dr. Otto Höchtl war, mit dem er viel musizierte und wo er im Freundeskreis immer wieder gedrängt wurde, seine Gedichte vorzutragen. Wir fühlen uns heute in unserem so fraglichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg versetzt und fühlen mit ihm die gleiche Sorge, dass die Menschen, vom Terror des Krieges erlöst, nichts so arg missbrauchen wie ihre Freiheit.

 

Er roch den Qualm des nächsten Scheiterhaufens

Er ahnt fünf Jahre nach dem Kriege, dass die Dächer schon wieder brennen und an den Kreuzen die Erlöser hängen:

              Wiederaufbau

  • Fünf Jahre sah ich zu, wie sie sich stießen
  • Am Freßtrog, den sie Wiederaufbau nennen;
  • Wer will den steifen Frontsoldat noch kennen
  • In dieser Heldenzeit der Zungenriesen?
  • Mir fehlt der Appetit von allen diesen,
  • Vergnügt zu schmausen, wo die Dächer brennen;
  • Auch laßt mich vor dem klugen Gacken-Hennen
  • Vor Sonnenuntergang das Haustor schließen.
  • Beschwatzt will sein, wer Lust hat einzukaufen.
  • Das Volk? Das Volk ist besser nicht noch böser
  • So heut wie eh’, trotz Um- und Wiedertaufen.
  • Die Pferche nur und Pfründen werden größer.
  • Es stinkt die Luft vom Qualm der Scheiterhaufen
  • Und an den Kreuzen hängen die Erlöser.

Dass Kelber schon 1924 („Fünf Jahre sah ich zu”) den Qualm der Scheiterhaufen roch, indes man die wirklichen Erlöser ans Kreuz schlug, während sich alle am Fresstrog stießen - ist es heute anders? - „Wer will den steifen Frontsoldat noch kennen in dieser Heldenzeit der Zungenriesen?”, das zeugt von der Klarsicht des Richters in dem Dichter und des Dichters in dem Richter, der seinem Volk im vorhinein das Urteil spricht. Kelber erkannte die Zeichen der Zeit und musste den Wächter nicht fragen, wie spät es schon sei.

Am 1. Januar 1930 wurde er zum Oberamtsrichter in Mitterfels ernannt, wohin ihn seine Liebe zum Bayerischen Wald zog, dem er ebenso wie seinen Menschen seine Gedichte widmete, sogar solche in Mundart. Seine außerordentliche juristische Befähigung hätte ihm leicht einen höheren Aufstieg ermöglicht, aber er glaubte gerade in Mitterfels zu finden, wonach nicht nur sein Pflichteifer, sondern auch sein feiner Kunstsinn und seine Naturliebe verlangten.

 

Gerechtigkeit und Recht . . . aber nicht für ihn

„Gerechtigkeit und Recht waren in seiner Hand auf das Treueste behütet; nichts und niemand konnte ihn beirren, nach Recht und Gewissen zu handeln und zu entscheiden”, sagt ein Freund von ihm, der ihm auch vor zehn Jahren einen ergreifenden Nachruf widmete. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass 1942 die damalige Justizverwaltung an seiner auf Rechtsgrundsätzen aufgebauten und nach richterlichem Gewissen geführten Amtsführung An­stoß nahm. Auf Veranlassung der Kanzlei des Führers wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt, weil seine Rechtssprechung verschiedenen Parteistellen nicht genehm und zu Willens war. Das Mitterfelser Gericht wurde zu einem Zweigstellengericht von Bogen herabgewürdigt. „Diese Maßregelung eines verdienten Beamten hatte Herrn Oberamtsrichter Dr. Kelber den Herzen der Bevölkerung von Mitterfels um ein Vielfaches nähergebracht”, rühmte der Mitterfelser Gemeindebote am 29. November 1949. „Wir wissen Herrn Oberamtsrichter Dr. Kelber nun schon 19 Jahre in unserer Gemeinde und schätzen ihn als Ehrenmann mit einem unbeugsamen Charakter, beseelt von einem tiefen Christentum! Er selbst hat diese entehrende Maßregelung mit würdevollem Schweigen hingenommen und getragen. Seine ganze Haltung als Richter sichert ihm einen Ehrennamen in der Geschichte der deutschen Rechtspflege.”

  •                                           „Denn auch ich war ein König
  •                                           in euerm Reich
  •                                           und trug die schönere Krone”

Jahrelang hatte der Richter seinen Schild gehalten über das Volk, das Recht, das Reich. Jetzt aber hat ihn der Sturm in den Winkel getrieben. „Was mir von allem übrig blieb, ist Schweigen und Verachten”, wie es in „Volkers Burglied” heißt:Es geht mit anderen Zungen

  • Es geht mit anderen Zungen
  • Durchs Land ein ander Melodei:
  • Nun hat auch Volker von Alzey
  • Verstritten und versungen.
  • Wer frägt noch nach den Alten,
  • Die über das Burgunderreich
  • Vor manchem Arm und manchem Streich
  • Einmal den Schild gehalten?
  • Es will der Tag sich nachten.
  • Der Wind mich in den Winkel trieb.
  • Was mir von allem übrig blieb,
  • Ist Schweigen und Verachten.

In einem anderen Liede sieht er sich bei diesem Nibelungenzuge, dieser nazistischen Hunnenfahrt als „Siegfried, den Speer im Rücken”, in einem weiteren vergleicht er sich mit dem Geistlichen, dem „Kuttner”, den der grimme Hagen in die Donau warf, um ihn zu ertränken, der aber gerade dadurch dem Tode aller entrann.

  • „Fern sei die Rachsucht deinem Knecht.
  • Gott schiert den Wolf mit Weile,
  • Doch stäubst du ihn, so stäub ihn recht
  • zu seinem Seelenheile.”

In diesen Jahren des Unrechts, der Nacht- und Nebelaktionen hatte Dr. Kelber all seine Schriften und Unterlagen ständig fertig in einem Koffer verpackt und tritt er wie Herr Skule zu seinem letzten Lied an. Wie dieser Barde die Liebe der Königin hatte Dr. Kelber das Herz, die Liebe des Volkes begehrt und wird nun von dem König, zu seinem letzten Lied verurteilt.

  • . . . Da schrie der König grimmig und grell,
  • Daß Ritter es und Heergesell
  • Durch Mark und Fiber drang:
  • „Herr Skule, spar den Sang und Sing,
  • Mein Ohr ward davon krank;
  • Du nahmst nicht Spange nur und Ring
  • Du nahmst auch Bettesdank.
  • Da drunten im Hof, da steht der Block
  • Und nebendran das Schwert;
  • Da wird dem Sänger der Königslohn,
  • Der Königsweibes begehrt.
  • Du hast ersungen mit weibischem Mund
  • Dir das verruchte Gelüst.
  • Nun singst du mir drunten das Lied, du Hund,
  • Das du mir schuldig bist.”
  • Der Henker wie die finstre Nacht
  • Mitten im Saale stand.
  • Herr Skule verneigte sich stumm und blaß
  • Und in der Tür verschwand.
  • Nach einer bangen Weile Lauf
  • Scholl drunten heller Sang.
  • Er scholl gedämpft in den Saal herauf
  • Durch den seidenen Fenstervorhang.
  • „König Hakon und Herren und Damen ihr
  • Und Ihr, Frau Königin,
  • Ich will euch singen das letzte Lied,
  • Das ich euch schuldig bin.
  • Es galt nur Haß und Schwerterschlag
  • Und Furcht und finstre Befehle.
  • Ich sprang wie der lachende Frühlingstag
  • In eure dumpfen Säle.
  • Wie fand ich euch versteint, verstockt
  • Bis an der Herzen Grunde!
  •    Ich hab ein frohes Lachen entlockt
  • Dem hartgeschlossensten Munde.
  • Für euch erklang in lauer Nacht
  • Die süße Wehmut der Geigen;
  • Ich schuf euch all die bunte Pracht
  • Von Liebesfesten und Reigen.
  • Ich goß euch Tag und Nächte ein
  • Den vollen Freudenbecher.
  • Sollt ich allein der Darber sein
  • Und ihr allein die Zecher?
  • König Hakon und ihr Herren, die ihr
  • Euch Land und Weib erzwungen,
  • Euch wundert dessen, daß ich mir,
  • Was ihr erzwangt, ersungen?
  • Ich tat wie ihr. Ich tats euch gleich
  • Und sang zu meinem Lohne;
  • Denn auch ich war ein König in euerm Reich
  • Und trug die schönere Krone.
  • Wie schwoll das Herz mir königlich
  • Vor ihrem süßen Neigen!
  • Sie gaben wie die Erde sich
  • Dem jungen Lenz zu eigen.
  • Und weil an meiner Brust geruht,
  • Die eurer Liebe entbehrten,
  • Drum muß mein königliches Blut
  • Schmachvoll vergossen werden.
  • Doch deß, doch deß getröste sich
  • Mein Herz in bitterm Zagen:
  • Viel stumme Trauer werden um mich
  • Viel schöne Frauen tragen.
  • Viel rote Lippen werden sich
  • In heiße Kissen pressen;
  • Wer je in Skules Armen lag,
  • Wird seiner nicht vergessen.
  • Die mein genossen, grüße ich,
  • Da ich den Tod gewinne.
  • Ich grüße Dich - und Dich - und Dich -
  • Und Dich, Frau Königinne!”
  • Im Saale lastets starr und stumm,
  • Als lag der Schlag geschlagen.
  • Die Furcht ging wieder im Lande um
  • Wie in den alten Wagen.

Die Furcht ging wieder im Lande um - Doch es war nicht Skules letztes Lied.

 

. . . wieder in seine Ehre eingesetzt

1946 wurde Dr. Kelber wieder in seine Ehre, in sein Amt eingesetzt, auf Vorschlag des damaligen Landrats Albert Dietl. Aber nur ein Teil des angetanen Unrechts konnte damit wieder gut gemacht werden. Mit diesem Mai 1946 brach für ihn ein zweiter Frühling an. Man spürt ihn aus den Versen selber:

              Frühling

  • Wirf zu den Toten, was war!
  • Wieder die Düfte Dich fanden.
  • Siehe mit weißen Girlanden
  • Springt in die Feier das Jahr.
  • Schweige den Kummer und Spott!
  • Tiefer laß Dich vollenden!
  • Mit verjüngenden Händen
  • Greift in die Harfe der Gott.
  • Siehe, schon führt er Dich weit
  • Über die gestrigen Ziele.
  • Im erneuerten Spiele
  • Wechselst Du Rolle und Kleid.

Hier finde ich den ergreifendsten, den charakteristischsten Vers unter den vielen tausenden, die mir seine Frau zur Veröffentlichung zukommen ließ: „Tiefer laß Dich vollenden!” Für ihn ist alles Schicksal ein Reifen, ein Aufschwingen zur Fülle des Seins. Ihm ist jetzt wie in dem Gedicht, das er ebenfalls in Dießen schrieb:

              Nach dem Hochamt

  • Die Lobpreisung ist verbrandet.
  • Heilige, in Grün und Rot gewandet
  • Hüten ernst die Wölbung, Paar um Paar.
  • Von gewundnen Säulen wild umrandet
  • Steht verlassen der Altar.
  • Weihrauch weht noch. In der goldnen Lade
  • Schweigt der Gott, so wie er immer schweigt.
  • Stumm verstößt er, stumm gewährt er Gnade;
  • Mit dem großen Weltenrade:
  • Schicksal fällt und steigt.
  • Vor dem blatt- und rankenschweren Gitter,
  • Dessen Stabwerk heiße Hände kühlt,
  • Knien wenige gebeugte Bitter,
  • Von der Betflut rückgebliebene Splitter,
  • In den toten Winkel abgespült.
  • Stille wächst, des Gottes tiefste Sprache.
  • Unsre ährensüchtige Brache
  • Leisen Wurfes sie mit Frucht bestellt.
  • Durch den steilen Fensterbogen
  • Kommt die Schwalbe schilpend eingeflogen -
  • Atemzug der Welt.

Selbst rehabilitiert hat sich Dr. Kelber um so mehr für die Wiedererlangung der früheren Zuständigkeiten des historischen Amtsgerichts Mitterfels trotz des Widerstandes der amerikanischen Militärregierung mit Nachdruck und schließlich auch mit Erfolg eingesetzt. Am 1. November, um die kurze Biographie abzuschließen, trat der Vorsteher des Amtsgerichtes im Alter von 68 Jahren in den Ruhestand, nicht aber der Dichter. „Alles, was Dr. Kelber, der Stille und Einsame, in seinen Mußestunden schrieb,” gesteht sein Freund Leitelt, „es greift immer wieder in das wirkliche, gelebte und erlebte Leben hinein, zeichnet den Menschen in seiner oft allzu menschlichen Absonderlichkeit genauso fein analysiert wie etwa eine Blume am Feldrain oder das melancholisch stimmende Fallen eines Buchenblattes im Spätherbst.”

  • „Wir lauschen nun mit aufgewühltem Herzen
  • Der Schönheit unvergeßlichen Gesängen”

 

. . . er dichtete nur für sich

Für jeden Freund genuiner Poesie, mehr noch für den Literaturkritiker, der plötzlich mit einem so umfangreichen wie vollendeten Lebenswerk konfrontiert wird, muss es ein unerklärliches Rätsel bleiben (das uns seine Freunde und Verwandten erklären müssten), warum dieser treffsichere Poet und klare Meister der Sprache nichts veröffentlichte. Kelber hat wohl 1929 ein 74 Seiten starkes Bändchen „Sonette” und 1932 ein Bändchen „Gedichte” von 112 Seiten als Manuskript, er hat 1946 eine herrliche Mappe mit 32 Blättern auf Pergament „Alles in Wendung” in einer Auflage von 35 Stück drucken lassen, er war aber schwer vergrämt, als ich im Straubinger Kalender sein Mundartgedicht „Die Leich” publizierte - und zwar gegen seinen Willen, wie ich nachträglich erfuhr. Schon 1929 heißt es im ersten „Sonett”, so der Titel des Gedichtes:

  • „Herz, hast du nicht einmal auch gesungen?
  • Und mir war, als ob ich die Gespenster
  • Ferner, ferner Tage wieder schaute
  • Und nachdem der letzte Ton verklungen,
  • Stand ich noch und schloß die Fenster
  • Und zerschnitt die Saiten meiner Laute”.

Im gleichen Band von 1929 lesen wir im Sonett „Ikarus”, mit dem sich der Dichter in seinem Höhenflug vergleicht:

  • Ich hab euch nie verkauft, ihr meine Lieder
  • Und hab euch nie geworfen auf die Gassen . . .
  • Ihr flogt mir zu - so hab ich euch gelassen
  • Und wie ihr wuchst, so tönt ihr mir nun wieder.
  • Wie lange rann schon in die dunklen Meere,
  • Was mir in euch die Jahre zugesungen:
  • Unheil und Glück, Behagen, Spiel und Schwere!
  • Ihr Glocken, die ich einmal angeschwungen,
  • Harrt nun der Stunde, die euch neu gebäre!
  • Einst sind wir alle nur Erinnerungen.

Heute, da unsere Litaratur durch eine schier endlose Wüste wandert, da Sex und Crime den Markt beherrschen und auch die Verlage nur nach Profit jagen, ist es kein Wunder, dass sich große Dichtung schwer durchsetzt, weil die Masse lieber sich mit den „Spielen” von Gwen Davis begeilen lässt. Heute wäre es ein Segen für die Literatur, wenn vieles nicht gedruckt würde, aber damals . . .? Der Hauptgrund, warum Dr. Kelber nur für sich dichtete, dürfte in seiner ganz persönlichen Auffassung liegen. Ich wage es heute noch nicht, diese Begründung zu formulieren. Jedenfalls ist er dadurch der unbekannte Dichter des Bayerischen Waldes geblieben, den es heute neu zu entdecken gilt und den wir schon lange vorher verloren, ehe wir ihn gefunden hatten.

Obwohl Dr. Kelber in München geboren, in seiner Geisteshaltung ein ungewöhnlich gebildeter Weltmann und obgleich er mit dem berühmten Balladendichter Börries Freiherrn von Münchhausen (†1945), der wie Kelber Jurist und Offizier im Ersten Weltkrieg gewesen war, in ständigem Briefwechsel stand, dessen Anerkennung fand, ja einmal sogar den verhinderten Dichter bei einer Dichterlesung in Straubing vertreten hatte, und obgleich unser Richter und Dichter weit mehr klassische Themen gestaltet hat, ist er doch in einem tieferen Sinne der Dich­ter des Bayerischen Waldes. Er hat nicht bloß 31 Jahre im Vorwald gelebt. Sein für alles Schöne offenes Wesen und seine Liebe zu Gottes ureigenster Natur trieb den Ein­samen und Stillen in den „Wald”, wo er täglich seine und ihre Wunder erlebte, bestaunte, besang:

              Herbst

  • Im Feierkleid, gefältelt und gerafft,
  • Stehn rot und violett die Georginen
  • Und weiße Astern in geschliffnem Taft.
  • Den grauen Wehrturm schlägt in Prunk und Haft
  • Der Wilde Wein mit blutigen Rubinen.
  • Kurz ist der Reife süße Leidenschaft.
  • Vom späten Fluge kehren heim die Bienen,
  • Am Rausch der Traube ist der Stock erschlafft,
  • Zurück ins Mark der Bäume sinkt der Saft
  • Und alles rüstet sich mit stillen Mienen,
  • Dem Gott der Frucht sich vollends leerzudienen.
  • Die Sonne fällt. Erfüllung war die Kraft.

Oder einige Verse aus dem Gedicht „Herbstzeitlose”:

  • Du rührend Abbild unserer Herzensnot,
  • Du Kaummehr, Trotzdem, Fastnicht, Wielangenoch!
  • Wie du mit frostgebogenen Fingern
  • Ängstlich die frierende Seele hütest!
  • Du bittest, doch du bittest sie nicht hinweg,
  • Den Frost, den Nebel und auch die Sense nicht.
  • Du weißt es, ach du weißt so gut, daß
  • Nahe am Leide die Schönheit wohne.

Ich kenne in der modernen Dichtung wenige, die so wie Dr. Kelber, der Richter, entehrt und gemaßregelt, von den Menschen enttäuscht, in der unverdorbenen Natur, in Gottes Schöpfung, deren Schönheit und durch sie den Schöpfer erlebten. Gerade dieser Enttäuschung mit den Menschen und seiner Verzweiflung verdanken wir heute diese unvergänglichen Natur- und Stimmungsbilder, die keineswegs nur übliche, die oberflächlichen Heimatdichter-Rei­mereien, sondern Poesie vom Range eines Carossa sind. Dass dieses Urteil zutreffend, dafür möge ein Gedicht aus dem „Tempel in Paestum” (Gedruckt 1962) den Beweis liefern:

  • Und manchmal hebt im Meer die Orpheusleier,
  • Die tiefversunkene, zu tönen an
  • Und übertönt Entwerter und Entweiher.
  • Die großen fernhinwandelnden Befreier,
  • Die leidentwachsenen, sich nahn;
  • Sie werfen in den Zank der Tagesschreier
  • Das gültige, das goldene Gran
  • Die reine, überstillte Feier
  • Darfst du, ein Spätgeschenk, empfahn.
  • Was ist dir, dem Verzichtenden, ein Jahr?
  • Vor tausenden entstiegst du der Erde,
  • Die dich, ein steinernes Gebet, gebar
  • Und bietest dich mit ruhiger Gebärde
  • Den ernsten Mächten der Vergängnis dar.
  • Was bin ich dir, an deinen Säulen stehend?
  • Ein Stein, ein Tobel sich im Kreise drehend,
  • Ein Hauch, ein Flaum, ein flüchtig Allerlei,
  • An deiner Dauernis vorübergehend,
  • Woher-Wohin-Wozu? Vorbei: Vorbei.

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Paula Kelber und Dr. Gustav Kelber (1961) - Vergrößern durch Anklicken!

Seinen Lebensabend verbrachte Dr. Kelber mit seiner charmanten Gattin Paula, geb. Fritz, in Mitterfels. Diese zog nach dem Tod des Ehegatten nach Bad Aibling, wo sie sich noch im Alter von 86 Jahren begeisterte für die Dichtungen einer Nelly Sachs, eines Hermann Hesse usw. Auch interessierte sie sich stets noch für die Feuilletons der Zeitungen.

Wir ergänzen Dr. Sigls Hommage an Dr. Gustav Kelber mit einem Gedicht, das Paula Kelber selbst im Jahre 1934 fertigte (Redaktion MM):

              Bayerischer Wald

  • Wie bist du fromme, mein Land!
  • Es beten deine Wege sich hinauf zum Kreuz am Acker,
  • Es betet das Gewog der Wiesen und der Felder
  • Und deiner dunklen Wälder grüne Wipfel
  • Rauschen ihr Orgelsingen feierlich hinüber
  • Zu den lichten Liedern deiner blauen Berge.
  • Und Wege hast du doch und Einsamkeiten,
  • Wo erdenferner deine Winde wehen.
  • Wo tiefer leuchten deiner Blumen Sternenmeere,
  • Wo alles Beten schweigt: Denn nah ist Gott, der Herr.
  • Wer dies erwandert, atmet leichter und befreit
  • Und weiß schon um die Seligkeit der ewigen Gefilde.

                                                         Paula Kelber (1934)

Dr. Kelber sprach nie von sich selbst und er litt stark unter dem Verlust seines allzu früh dahingegangenen Sohnes Ernst. Auch nach der Wiederherstellung seiner Richter- und Mannesehre blieb er stumm. Ihm genügte sein Dichten: „Doch mir hast du gegeben, die bunte Welt in Liedern abzuspiegeln.” Er ist wie Odysseus heimgekehrt:

              Heimkehr

  • Und endlich kommt er heim zu seinem Hause,
  • Der viel gelitten von der falschen Welle
  • Und sitzt in Lumpen an der eigenen Schwelle
  • Und sieht die Prasser drin im Saal beim Schmause.
  • Am vollen Tisch sitzt immer der Banause
  • Und säuft vergnügt aus eines andern Quelle,
  • Ist immer da und weicht nicht von der Stelle
  • Und fühlt sich pudelwohl im fremden Flause.
  • Es gibt kein Glas, an dem sie nicht gesogen;
  • Die Welt ist ihnen eine große Schenke -
  • Ein Narr, wer auf die hohe See gezogen!
  • Sie bechern fort. Geschrei geht durch die Bänke -
  • Auf einmal nimmt der Bettler seinen Bogen
  • Und schießt sie ab wie Keiler an der Tränke.

Am Montag, 4. Dezember 1961, ist dieser große Unbekannte und unbekannte Große nach einem vorausgegangen Schlaganfall im Krankenhaus Bogen verschieden.

  • Immer ein Anfang quillt aus der dunklen Vollendung.
  • Nichts ist bloßer Verlust. Alles ist Wendung.
  • Noch der verlassene Leib in der Flamme Verzehr
  • Findet des Himmels blauende Tröstung offen
  • Und wir tragen das unbegreifliche Hoffen
  • Wie vertrauende Kinder allem Tode vorher;
  • Daß noch einmal der singende Gott uns ergriffe,
  • Daß er noch einmal die kettenrasselnden Schiffe
  • Triebe wie weiße Vögel über das Meer. 

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Ansicht von Mitterfels um 1912 (Foto: Zerle, München - im Besitz von Frau Elisabeth Aumer) - Vergrößern durch Anklicken!

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