Glossen, Realsatire & Co.
Judas 2.0
Über Lynchjustiz - einst im Wilden Westen, heute jenseits des Hindukusch und via (un)soziale Netzwerke auch in Deutschland
Tombstone ist ein Kaff im südlichen Arizona, das berühmt wurde, weil dort Wyatt Earp Sheriff war und sein Freund Doc Holiday mit einer Schrotflinte schoss. Auf dem alten Friedhof von Tombstone gibt es allerlei schwarzhumorige Grabinschriften, die vielleicht echt, mindestens aber gut erfunden sind. Da wird auf einem der Bretter eines gewissen George Johnson gedacht, der 1882 fälschlicherweise aufgehängt wurde, hanged by mistake. Man liest auf seinem Grabbrett: "Er hatte recht, wir nicht, aber wir haben ihn trotzdem aufgehängt."
Dieser Satz ist eine gute Definition der Lynchjustiz. Leider ist diese Form des Umgangs mit Verdächtigen nicht zusammen mit dem Wilden Westen gestorben, sie wird bis heute in der ganzen Welt praktiziert. In manchen Regionen hat man der Lynchjustiz ein Mäntelchen, nein: eine Burka, umgehängt und behauptet, das Toben des Mobs bei einer Steinigung entspreche göttlichem Recht. (Übrigens, nur nebenbei: Ein Land, das eine solche Strafordnung kodifiziert hat, sollte international geächtet werden – auch wenn es Öl an Deutschland verkauft.)
Leider bedarf es auch diesseits des Hindukusch offenbar nur eines Anlasses, um die Instinkte des Lynchmobs zu wecken. In Emden ist dies gerade geschehen, wo ein junger Mann ein Kind umgebracht hat. Die Polizei verhaftete ziemlich öffentlich einen ersten Verdächtigen, auf den sich sofort die Vorverurteiler etlicher Medien stürzten. Vom "miesen Kindermörder" las man in einer Boulevardzeitung und anderswo, nicht zuletzt bei etlichen sogenannten newssites im Netz, wurde nicht zwischen Festgenommenem und Täter differenziert.
Am entschiedensten waren, man muss sagen: wieder einmal, die besorgten Bürger, die eine besondere Form der Öffentlichkeit über Facebook, Twitter und andere, in diesem Falle ausgesprochen unSOziale, Netzwerke herstellten. Die Digital-Gestapo verbreitete Namen und Anschrift des Festgenommenen und lud Fotos jenes Hauses hoch, in dem der junge Mann wohnte. Man war sich nicht ganz einig, ob er erschossen werden sollte, aufgehängt oder kast riert. Aber, und fast denkt man da an das Transparenzgebot der Piratenpartei, immerhin debat tierten die virtuellen Totschläger öffentlich.
Mittlerweile weiß jedermann, dass der erste Festgenommene unschuldig war; ein anderer hat gestanden. Und dennoch widerfuhr dem zu Unrecht Verdächtigten fast das Schicksal des George Johnson in Tombstone, allerdings ohne die letzte, tödliche Konsequenz. Der junge Mann ist fertig - er ist fertiggemacht worden, weil ihn die Polizei unter denunziatorischen Umständen verhaftet hat, weil manche Journalisten skrupellos arbeiteten und weil viele Leute ihren niederen Instinkten gehorchten.
Die Bereitschaft zur Denunziation, zum üblen Nachreden ist so alt wie die Menschheit selbst. An diesem Freitag, dem Karfreitag, wird nicht nur die Geschichte des sterbenden Jesus erzählt, sondern eben auch die von Judas, dem Erzverräter und Denunzianten. Er hätte es heute bedeutend leichter - die Häscher könnten Jesus über die Mobiltelefone der Jünger orten, und außerdem hätte das Volk seit dem Einzug in Jerusalem jede Bewegung des Herrn auf Youtube und Facebook festgehalten.
Auch wenn es in Emden so aussah, ist in den letzten Jahren vielleicht nicht einmal die Lust an der Denunziation und der Zusammenrottung zum Mob gewachsen, obwohl einiges dafür spricht. Über das Internet kann jeder Interessierte die theoretisch größtmögliche Öffentlichkeit herstellen und diese aber gleichzeitig durch speziell auf ihn zugeschnittene Dienste in seinem unmittelbaren Lebensbereich konzentrieren. Medientheoretisch gesehen, bedeutet dies die Zusammenfassung der Welt in einem Smartphone in der Handfläche, dessen Besitzer gleichzeitig Empfänger und Sender ist.
Das Jedermann-Sendersein ist der riesige Unterschied zum Vornetz-Zeitalter.
Weniger theoretisch heißt es aber auch, dass jedes Geschwätz, jedes Gerücht, jedes Foto ohne Zeitverzug wenn nicht Allgemeingut, so doch Allgemeingut der Interessierten werden kann. In der Vornetz-Zeit, gewissermaßen also in Tombstone, war der Lynchmob eine Angelegenheit von zwei Dutzend Leuten, die sich physisch irgendwo versammeln mussten. Heute kann ein Lynchmob Zehntausende umfassen, weil die vielgepriesene Intelligenz des Schwarms genauso funktioniert wie seine bisweilen gnadenlose Dummheit. Der Unterschwarm Emden ist ein Beispiel dafür: Die Polizei hatte ihm George Johnson gezeigt, und los ging es.
Öffentlichkeit ist kein Wert an sich, es kommt sehr darauf an, warum worüber Öffentlichkeit hergestellt wird. Das Jammern über die Allgegenwart der Netzöffentlichkeit ist nicht nur sinnlos, sondern auch falsch, weil nichts anderes unser Jahrhundert mehr prägt als das Netz. Es verändert die Menschen, nicht nur ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen. Aber gerade weil das so ist, muss man nicht nur zum Beispiel über das Urheberrecht in diesen Zeiten nachdenken, sondern auch und gerade über Regeln und Regelungen für jene Fälle, in denen die maßlose, meist anonyme Denunziation im Netz verletzt oder gar tötet.
Kurt Kister, in: sz vom 5./6. April 2012, Seite 4
Neueste Nachrichten
- 1000 Jahre Geschichte um Mitterfels (71)
- Wie es einst auf dem Land an Lichtmess war
- Mariä Lichtmess - Brauchtum in früherer Zeit
- Mitterfelser Magazin 29/2023 - Eine Publikation des Arbeitskreises Heimatgeschichte Mitterfels
- Mitterfelser Magazin 30/2024 - der neueste Jahresband des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Arbeitskreis Heimatgeschichte Mitterfels erhält den Kulturpreis 2024
- Mitterfels. Neuer Gedichtband von Wolfgang Rödig
- Abendwanderung im Lichterglanz
- Aussichtsturm im Tier-Freigelände ist fertig saniert
- „Das ist das i-Tüpfelchen zur Etablierung der Aasökologie“
- Mitterfelser Magazin 8/2002 jetzt digitalisiert
- Mitterfelser Magazin 9/2003 jetzt digitalisiert
- Mitterfelser Magazin 10/2004 jetzt im pdf-Format digitalisiert
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins MM 11/2005
- Online-Beiträge aus dem Mitterfelser Magazin 12/2006
- MM 12/2006. Vom Samtfußröhrling bis zum Zunderporling
- MM 12/2006. Aus dem Garten der Natur
- MM 12/2006. Mitterfels 1956
- MM 12/2006. Zum Bezirksmusikfest 2006 des Musikbundes Donau-Wald
- MM 12/2006. Freilichtspiel 2005 im Burggarten Mitterfels
- MM 12/2006. … in einer Versteigerungsliste des Klosters Windberg entdeckt
- MM 12/2006. Exkursion im Bereich eines Altwegeverlaufs südlich von Mitterfels
- MM 12/2006. Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten, Begebnisse … Teil 2
- MM 12/2006. Ein Blick in die heimatkundliche Forschungsarbeit für das Mitterfelser Magazin
- MM 12/2006. Wasenmeister, Schinder, Abdecker
Meist gelesen
- Unser "Bayerwald-Bockerl" erlebte seinen 100. Geburtstag nicht
- Vor 27 Jahren: Restaurierung der einstigen Kastensölde in Mitterfels abgeschlossen
- Markterhebung - 50 Jahre Markt Mitterfels
- Mühlen an der Menach (08): Wasserkraftnutzung in Kleinmenach und an den Nebenflüssen (in Groß- und Kleinwieden und Aign)
- Menschen aus unserem Raum, die Geschichte schrieben (1): Johann Kaspar Thürriegel
- Mühlen an der Menach (21): Die Höllmühl
- Begegnung mit Menschen (6). Drei Wandgemälde in der Volksschule Mitterfels von Willi Ulfig
- Dakemma, Bäxn, Moar ....
- Mühlen an der Menach (05): So wurde in Frommried (und auch in anderen Mühlen) aus Getreide Mehl
- Erinnerungen an einen "Bahnhof" besonderer Art: Haltepunkt Wiespoint
- Mühlen an der Menach (04): Frommried, eine der ältesten Mühlen
- Impressum
- Mühlen an der Menach (11): Die Mühle in Recksberg
- Das alte Dorf im Wandel
- Mühlen an der Menach (03): Ein Perlbach namens Menach
- Ortskernsanierung in Mitterfels (Stand 1995)
- Die Kettenreaktion
- Mühlen an der Menach (07): Die Hadermühl
- Sparkasse Mitterfels - 10 Jahre älter als bisher bekannt
- Datenschutzerklärung
- Das neue Mitterfelser Magazin 22/2016 . . .
- BWV-Sektion Mitterfels: Über 40 Jahre Lebens- freude (Stand: 2003)
- Publikationen AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Es begann in Kreuzkirchen
- 2021: VG Mitterfels wurde 44
- Eine Bücherei entsteht
- Begegnung mit Menschen (1). Erinnerungen an Balbina Gall - Hebamme von Mitterfels
- Das ehemalige Benediktinerkloster Oberaltaich - seine Bedeutung für unseren Raum
- Mitterfels. Vorweihnachtliches Lesekonzert im Burgstüberl
- Wandern auf kurfürstlichen Spuren
- Schloss Falkenfels als Flüchtlingslager
- Mühlen an der Menach (01) - Vorstellung der Themenreihe
- Ergebnis der Bundestagswahl 2017 in der VG Mitterfels
- Der Forst, ein Ortsteil von Falkenfels
- Hausnummern - Spiegelbild für Dorf und Gemeinde
- Kirchengrabung in Haselbach mit Fund romanischer Wandziegelplatten im Jahre 1990
- Widder an den Thurmloch-Wassern
- Mühlen an der Menach (02): Wasserkraftnutzung an der Menach
- Sind wirklich die Falken die Namensgeber von Falkenfels?
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Jahreshauptversammlung 2017 mit Exkursion
- Mühlen an der Menach (19): Die Ziermühl
- Erinnerungen eines Landarztes
- Über den Mitterfelser Dorfbrunnen
- Qualifikation zur bayerischen Meisterschaft im Seifenkistenrennen 1950 in Mitterfels
- Sie waren Lehrbuben auf Schloss Falkenfels
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Das neue Mitterfelser Magazin 21/2015
- Mühlen an der Menach (25): Die "Wartnersäge" bei den Bachwiesen
- Zentrales Gemeindearchiv: Altes Kulturgut besser nutzen
- Zur Ortskernsanierung (1995): Begegnung mit Stuttgarter Studenten
- Neues Mitterfelser Magazin 19/2013 erschienen
Meist gelesen - Jahresliste
- Das neue Mitterfelser Magazin 22/2016 . . .
- BWV-Sektion Mitterfels: Über 40 Jahre Lebens- freude (Stand: 2003)
- Publikationen AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Mitterfels. Vorweihnachtliches Lesekonzert im Burgstüberl
- Der Forst, ein Ortsteil von Falkenfels
- Burgmuseumsverein Mitterfels. Objekt des Monats Oktober 2016 . . . und frühere Objekte
- History of Mitterfels
- Der Haselbacher Totentanz
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins 1/1995 bis 10/2004
- Bayerische Landesausstellung 2016 in Aldersbach. Bier in Bayern
- Kalenderblatt
- Mitterfels. Theaterspiel und Menü im Gasthaus „Zur Post“
- Landesausstellung "Bier in Bayern" in Alders- bach
- Club Cervisia Bogen. Bogen: Startschuss für D‘Artagnans Tochter und die drei Musketiere
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Führung Friedhof St. Peter in Straubing
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Exkursion zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
- Windberger Theater-Compagnie. „Lokalbahn“ - Rollen mit Herz und Seele gespielt
- Landkreis Straubing-Bogen. Hans Neueder gibt nach 25 Jahren sein Amt als Kreisheimatpfleger auf
- Jahresversammlung 2016 des AK Heimatgeschichte Mitterfels mit Exkursion nach Elisabethszell
- Schwarzach. KiS-Gründer Wolfgang Folger übergibt Amt des Vorsitzenden an Sascha Edenhofer
Meist gelesen - Monatsliste
- Neues aus unseren Gemeinden
- 1000 Jahre Geschichte um Mitterfels (71)
- Mitterfelser Magazin 29/2023 - Eine Publikation des Arbeitskreises Heimatgeschichte Mitterfels
- Mitterfelser Magazin 9/2003 jetzt digitalisiert
- Mitterfelser Magazin 8/2002 jetzt digitalisiert
- Mitterfelser Magazin 10/2004 jetzt im pdf-Format digitalisiert
- Mariä Lichtmess - Brauchtum in früherer Zeit
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins MM 11/2005
- Wie es einst auf dem Land an Lichtmess war
- Mitterfelser Magazin 30/2024 - der neueste Jahresband des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Online-Beiträge aus dem Mitterfelser Magazin 12/2006
- MM 12/2006. Vom Samtfußröhrling bis zum Zunderporling
- MM 12/2006. Mitterfels 1956
- MM 12/2006. Aus dem Garten der Natur
- MM 12/2006. „Königliche Hoheit, halt’s Mäui!“
- MM 12/2006. Zum Bezirksmusikfest 2006 des Musikbundes Donau-Wald
- MM 12/2006. Freilichtspiel 2005 im Burggarten Mitterfels
- MM 12/2006. Ein Blick in die heimatkundliche Forschungsarbeit für das Mitterfelser Magazin
- MM 12/2006. … in einer Versteigerungsliste des Klosters Windberg entdeckt
- MM 12/2006. Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten, Begebnisse … Teil 2