Selten wie die blaue Mauritius

Nirgendwo sind bäuerliche Kleindenkmäler so radikal wegradiert worden wie im Bayerischen Wald. Ein Kleinod gibt es noch - die Hien-Sölde von 1436

 

Quelle: Hans Kratzer, in: Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2012, Nr. 219

Im Oktober 1435 hat sich in Straubing ein Drama zugetragen, das die Menschen noch heute berührt. Der Chronist Veit Arnpeck hat diesen Fall bis ins Detail dokumentiert: "Herzog Ernst liess ertrenken zu Straubing Agnes Pernawerin, ains palbirers tochter, ain wunderschöne frauen ..." Was für ein überwältigendes Erlebnis wäre es doch, in einer Zeitmaschine zu sitzen und kurz einzutauchen in die Geschehnisse um die Agnes Bernauer, die heute so fremd und unwirklich erscheinen. Nur etliche Kilometer weiter östlich von Straubing würden wir Waldarbeiter sehen, eine winterliche Szenerie, wie sie auf den Bildern des alten Brueghel zu erahnen ist. Wir träfen auf jene Männer, die in den Tannenwäldern bei Mitterfels gerade das Bauholz für ein Wohnhaus schlagen, das heute noch weitgehend originalgetreu an seinem Platz steht und in seinem Inneren sogar Überreste und Spuren der Zeitgenossen der Agnes Bernauer bewahrt hat. Die fast 600 Jahre alte Hien-Sölde in der Burgstraße in Mitterfels ist eine Sensation, in der historischen Häuserlandschaft Deutschlands gibt es nichts Vergleichbares. Man muss schon weltweit suchen, um ein ähnlich gut erhaltenes Holzblockwohnhaus aus dem 15. Jahrhundert zu finden.

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Unter den alten Putzschichten kommen in der Stube der Hien-Sölde die Balken zum Vorschein, die vor fast 600 Jahren geschlagen wurden. Die Sanierung des Hauses könnte im kommenden Sommer abgeschlossen sein. FOTOS: KRATZER/OH (2)

Für Maria Birkeneder und Elisabeth Vogl ist dieses Haus, das nach einem ehemaligen Besitzer Hien-Sölde genannt wird, so etwas wie eine zweite Heimat geworden. Die beiden Frauen verfolgen mit einer Reihe von Gleichgesinnten seit Jahren ein Ziel: "Dieses einzigartige Haus muss unbedingt erhalten bleiben." Freilich, so denkt nicht jeder Bürger in Mitterfels und Umgebung. Im Bayerischen Wald wird auf Altertümer traditionell nur wenig Wert gelegt, vermutlich erinnern sie die Menschen allzu sehr an die bittere Armut, die hier früher alles beherrscht hat. Nirgendwo sind die bäuerlichen Kleindenkmäler so radikal wegradiert worden wie in dieser Gegend. "Reißt es doch weg, das alte Glump!", lautet der seit Jahrzehnten gültige Leitspruch der Modernisierer. Davon lassen sich die Freunde der Hien-Sölde aber nicht beeindrucken. Sie gründeten einen Verein, übernahmen das Haus und leiteten neben ihrer Eigenleistung finanzielle und bauliche Maßnahmen in die Wege, um dieses historische Kleinod zu retten.

 


"Dieses Haus muss erhalten bleiben", sagen die einen, "reißt es weg", fordern die anderen.


Auf der Denkmalliste stand die Hien-Sölde schon seit Längerem. Weil sie dort aber ohne Datierung eingetragen war, ist ihre Bedeutung nicht erkannt worden. "Ehemaliges Bauernhaus, im Kern 18. Jahrhundert", lautete der Eintrag des Denkmalamts. Nachdem dann Zilli Attenberger, die letzte Bewohnerin, 1996 gestorben war, schien das Schicksal des Hauses besiegelt zu sein. Es drohten der Verfall und der Abriss. Immer lauter wurden die Stimmen, die stattdessen einen Neubau forderten.

Zum Glück wurde die Substanz des Hauses bautechnisch noch einmal gründlich geprüft. Die Architekten Wolfgang und Walter Kirchner, die den Bau zufällig zu Gesicht bekommen hatten, drängten auf eine dendrochronologische Untersuchung der Holzbalken. Im Januar 2002 lagen schließlich die Ergebnisse vor, die Sensation war perfekt. Die Hien-Sölde ist demnach zweifelsfrei im Jahr 1436 errichtet worden, wenige Wochen nach der Ermordung der Agnes Bernauer. Niemand hatte mit so einem Ergebnis gerechnet, nicht einmal das Landesamt für Denkmalpflege. Der Generalkonservator Egon Johannes Greipl bilanzierte bei seinem Besuch in Mitterfels: "So ein Gebäude ist so selten wie die Blaue Mauritius!" Bis dahin waren die Denkmalpfleger davon ausgegangen, dass es in Bayern keine Blockbauten aus Holz mehr gibt, die bis in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs (1618-48) zurückgehen. Plötzlich besaß die Hien-Sölde eine herausragende überregionale Bedeutung.

Die Hausforscher hatten Kernbohrungen an den Balken vorgenommen und die Abfolge der Jahresringe untersucht. Dabei ergab sich neben dem hohen Alter ein weiteres überraschendes Ergebnis. Die Bauherren von 1436 verzichteten auf eine Lagerung des Holzes, weshalb es auch nicht austrocknen konnte, vielmehr verbauten sie es waldfrisch. Das bedeutet, dass das Fälldatum, das meistens im Winter lag, auch das Baudatum markiert. Für die Hien-Sölde wurden damals ausschließlich junge Tannen verbaut. Die Kunsthistorikerin Elisabeth Vogl hat die Geschichte des Hauses penibel erforscht und kam zu dem Ergebnis, dass es wohl im Zusammenhang mit der Mitterfelser Burg zu sehen ist. In ihrem wegweisenden Aufsatz im Mitterfelser Magazin (Nr. 18/2012) schreibt sie, dass entlang der Burgstraße schon früh eine Siedlung mit kleinen Bauernsacheln entstanden sei, in der Schlossbedienstete und Handwerker wohnten. Nach 1436 seien drei weitere Bauphasen in den Jahren 1617, 1865 und 1901 nachzuweisen, erklärt Maria Birkeneder, die als Vorsitzende des Fördervereins die Hien-Sölde ebenfalls in- und auswendig kennt. Die heutige Gliederung des Hauses mit Stube, Kammern und Flez aber geht noch auf 1436 zurück. An der Südwand der Stube sind an der Innenseite deutlich die beiden ursprünglichen Schiebefenster zu erkennen, die wohl schon mit Glas abgedichtet waren. Tatsächlich wurden unter dem Boden Reste von Mondglasscheiben gefunden. "Dies legt nahe, dass es sich nicht nur um ein einfaches Bauernhaus gehandelt hat, sondern um ein Gebäude mit einer hochwertigeren Nutzung, die im Zusammenhang mit der Mitterfelser Burg stand", sagt Frau Vogl.

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Die Urform der Hien-Sölde im Jahre 1436: Zentraler Ort war die Flez, die zwar keine Decke besaß, aber dafür die Feuerstelle beherbergte. ZEICHNUNG: E. VOGL

Die Sanierung der Hien-Sölde wird insgesamt 633.000Euro kosten. Ein Zehntel muss der kleine Verein selber aufbringen, der sich immer noch vorhalten lassen muss, man solle doch für dieses Geld lieber einen Kindergarten bauen. Dass die Mittel für solche Projekte aus unterschiedlichen Töpfen fließen, spielt in der öffentlichen Meinung keine Rolle. Dass die Hien-Sölde überlebt hat, ist insofern ein kleines Wunder, aber irgendwie gerecht. Dieses Denkmal wird Mitterfels noch viele Besucher bescheren. Vermutlich auch solche aus Übersee, denn als Amerika entdeckt wurde (1492), da ist die Hien-Sölde schon ein halbes Jahrhundert gestanden.

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Maria Birkeneder, Vorsitzende des Fördervereins Freundeskreis Historische Hien-Sölde Mitterfels e. V. (Foto: Kratzer/OH)

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