"Gottes- und Nächstenliebe müssen sich durchdringen wie Fäden beim Weben eines Stoffes"

 

Sonntagspredigt am 4. November 2012 in der kath. Pfarrei Mitterfels von Pfarrer Pater Dominik Daschner OPRAEM

Das heutige Sonntagsevangelium ist einer jener Evangelientexte, bei denen wir schon nach den ersten paar Worten denken: Das kenn‘ ich schon!, und dann nur mehr mit einem Ohr hin­hören; weil was soll man da schon Neues entdecken. Das Gebot der Gottes- und Nächsten­liebe, das haben wir schon im Religionsunterricht gelernt und seither begegnet es uns auf Schritt und Tritt. Das kennen wir also schon. Aber vielleicht lohnt es doch, genauer hinzuhö­ren.

Jesus und ein Schriftgelehrter sprechen über die Wichtigkeit der Gebote. Jesus zitiert dabei das Schema Israel, das Gebot der Gottesliebe aus dem Buch Deuteronomium als wichtigstes Gebot – wir haben es heute als Erste Lesung gehört. Darin findet er Zustimmung bei seinem Gesprächspartner. Aber Jesus fügt ein zweites Gebot hinzu, das an anderer Stelle im Alten Testament steht, im Buch Levitikus: das Gebot der Nächstenliebe. Verschiedene Schriftstellen miteinander zu kombinieren oder auf diese Weise auch zu konfrontieren, das war damals eine gängige Form der Schriftauslegung. Aber ist es wirklich nur eine Hinzufügung, eine Aneinanderreihung zweier Gebote?

Um besser zu verstehen, was Jesus meint, möchte ich Sie heute in Gedanken ins Mitterfelser Heimatmuseum mitnehmen, vor einen alten Webstuhl. Ich denke, dass jeder von uns ein Bild davon vor Augen hat: das grob gezimmerte hölzerne Gestell mit den vielen Fäden: die langen Kettfäden, die man spannen muss, bevor man mit dem Weben eines Tuchs beginnen kann, und der Schussfaden, der mit dem Schiffchen wieder und immer wieder dazwischen durch­gezogen wird, damit Millimeter für Millimeter ein Stück Stoff entsteht. Nur in dieser Kombi­nation von Kette und Schussfaden entsteht ein Tuch, das uns kleiden und wärmen kann.

Und ebenso ist das mit der Liebe. Jesus reiht die Gebote von Gottesliebe und Nächstenliebe nicht bloß aneinander: die Liebe zu Gott und dazu noch die Liebe zum Nächsten. Er verknüpft beide zu einem Geflecht der Liebe. Beide müssen sich für Jesus durchdringen wie beim We­ben eines Stücks Stoff.

Wer behauptet, dass es allein auf die Liebe zu Gott ankomme, der besitzt eine Religiosität mit lauter vertikalen Fäden. Wer noch so fromm ist und viel betet und die Gebote Gottes zu be­folgen sucht, wer sich dabei aber von der Welt abgrenzt und meint, das Heil sei zu finden in einem Leben abseits der Gesellschaft, der spannt zwar viele vertikale Fäden. Aber es wird kein Ganzes daraus. Es bewirkt nichts, und man hat bald nur noch ein Wirrwarr von Einzel­fäden.

Wer dagegen Religiosität auf reine Menschenliebe reduziert, der hat viele horizontale Fäden. Aber die allein haben keinen Halt. Sie verheddern sich schnell und landen als Knäuel am Bo­den. Kettfäden und Schussfaden beim Weben – nur im richtigen Zusammenspiel wird ein Tuch daraus. Gottesliebe und Nächstenliebe – getrennt voneinander können sie nicht existie­ren; nur in der Verknüpfung können sie dem Leben dienen. Das ist es, worauf Jesus unser Augenmerk lenken will.

Die Liebe zu Gott nennt Jesus als das vornehmste und erste Gebot. Das ist sozusagen die Kette im Ge­flecht der Liebe, womit der Webprozess beginnt und ohne die keine Schussfäden gesetzt wer­den können. Sonst hängt die Nächstenliebe in der Luft. Das Verhältnis von Mensch zu Mensch kommt aber als ebenso wichtig hinzu. Denn sonst bleibt der Raum zwischen den Kettfäden leer, sonst bleibt die Gottesliebe hohl.

Man kann also nicht sagen: „Wenn du deine Mitmenschen respektierst, dann bist du religiös genug.“ Oder: „Wenn du nur gut zum anderen bist, dann ist das dein Gottesdienst.“ Nein: Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Mitmenschen darf man nicht auseinanderdividieren, das sind verschiedene und nicht austausch­bare Wirklichkeiten, die gleichwertig und aufeinander angewiesen sind – wie Kette und Schussfaden am Webstuhl.

Und man kann deshalb auch nicht sagen: Entscheidend ist, dass in einer Gemeinde intensiv gebetet und Gottesdienst gefeiert wird. Karitatives Engagement kommt dann von selbst. Nur in den Fürbitten für Notleidende zu Gott beten, aber selbst nicht nach Möglichkeit helfen, das ist heuchlerisch, würde Jesus sagen. Das war sein Hauptvorwurf an die Pharisäer. Die Liebe zu Gott muss auch in einer entsprechenden Liebe zum Nächsten konkret werden.

Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen. Das ist das Neue, was Jesus zu diesem Thema bringt. Erst dieses Ineinander von Gottesliebe und Nächstenliebe, dieses Geflecht der Liebe – wie Kette und Schussfaden am Webstuhl – erst dieses Ineinander aus Achtung gegen­über Gott, Mitmensch und sich selbst, erst so wird ein Stoff daraus, an dem unsere Welt Wärme, Leben und Schönheit findet. Und genau das ist unser Auftrag – als Mensch, als Christ.

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