"Wohnst du noch oder lebst du schon?"

 

 

Predigt in der kath. Heilig-Geist-Kirche Mitterfels am 22. Januar 2012: P. Dominik Daschner

„Wohnst du noch oder lebst du schon?“ Diese Frage stellen uns schon seit Jahren die Werbefachleute von IKEA. Wohnst du noch oder lebst du schon? Damit meinen sie: Ist deine Wohnung so eingerichtet, dass sie für dich nicht nur Wohnraum ist, sondern Lebensraum, dass du darin auflebst? Sie setzen mit dieser Werbung auf eine Entwicklung, die Forscher derzeit als einen sogenannten Megatrend ausgemacht haben. Zuerst in den USA und in den letzten Jahren immer mehr auch bei uns in Deutschland: das Cocooning - auf Deutsch übersetzt: Sich in einen Kokon einspinnen; sich im Privaten einigeln. Das Leben beschränkt sich dann möglichst auf die eigene Wohnung. Bleib lieber daheim, sagt sich der Cocooner, daheim ist es doch am schönsten! Statt essen zu gehen, ruft er den Pizza-Service an; er liegt gern mit Duftöl in der Badewanne, hat einen Kachelofen im Wohnzimmer, ein Heimkino, einen Heimtrainer, und erledigt seine Einkäufe am liebsten per Telefon oder Internet von Zuhause aus. Mitmenschliche Kontakte beschränken sich oft auf Chat-Rooms im Internet, wo man ebenfalls keinen Fuß vor die Tür setzen muss.
Cocooning, das ist eine Gegenbewegung gegen das Ständig-unterwegs-sein, gegen die hohe Mobilität, die in Beruf und Freizeit von vielen gefordert oder praktiziert wird. Es ist ein Trend, der viele von uns nicht unberührt lässt. In einer Welt, die immer unübersichtlicher und komplizierter wird, ist das ja auch ein verlockender Gedanke: Trautes Heim, Glück allein. My home is my castle. Spar dir Nerven, gönn dir Ruhe, bleib daheim und lass die schwierige Welt draußen vor der Tür! Ich denke, wir alle können das ein Stück nachempfinden.
Es sollte uns jedoch aufhorchen lassen, dass heute im Evangelium genau das Gegenteil passiert. Anti-Cocooning sozusagen. Jesus ruft Menschen heraus aus ihrer vertrauten Umgebung, aus ihrer Familie, aus ihrer gewohnten Tätigkeit. Simon, Andreas, Jakobus und Johannes holt er weg von ihren Booten, ihren Netzen, ihren Familien, ihren Häusern und Wohnungen. Radikal, bedingungslos wirkt sein Ruf: „Kommt her, folgt mir nach!“ Und sie lassen alles zurück und folgen ihm.
Der Anruf Jesu ist ein Ruf heraus aus der Gemütlichkeit der eigenen vier Wände. Es ist der Ruf hinein ins Neue, ins Unbekannte, es ist der Ruf zum Risiko. Und noch mehr: Wenn wir einmal die ganze Bibel in den Blick nehmen, dann werden wir da ein paar Dutzend Erzählungen finden, wo Gott Menschen ruft, sie anspricht, sie herausfordert, ihnen einen Auftrag gibt, sie sendet. Dagegen findet sich keine einzige, wo Gott einem Menschen sagt: Geh heim! Geh zurück in dein Haus!
Die erste Berufungsgeschichte der Bibel ist die Abrahamserzählung: „Zieh weg von deiner Heimat!“, vernimmt der Urvater aller Glaubenden. Dem Mose wird gesagt: „Geh nach Ägypten, zum Pharao, und führe mein Volk aus Ägypten heraus!“ Heute in der Lesung hört Jona den Auftrag Gottes: „Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive!“ Was ist da eigentlich mit Gott los, liebe Schwestern und Brüder? Gönnt er uns Menschen nicht unser kleines Glück? Er ist doch ein Gott, der uns Heimat schenken will! Warum verlangt er dann immer wieder, dass Menschen ihr Zuhause verlassen?
Eine Antwort liegt sicher in der ersten Predigt, die Jesus hält, unmittelbar bevor er die Jünger beruft. Sie beginnt mit den Worten: „Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe.“
Die Zeit ist erfüllt. Das heißt: Es gilt; hier und jetzt. Also: Nicht länger die Füße hoch legen und auf bessere Zeiten warten! Sondern: Lebe hier, lebe heute! Und: Das Reich Gottes ist nahe. Das heißt: Leben in seiner ganzen Fülle und Tiefe ist möglich. Deswegen ruft Jesus Menschen von zu Hause weg, weil er ein Mehr, ein Plus an Leben für sie will. Martin Buber sagt einmal: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Wer immer nur daheim sitzt, der verpasst also einen wesentlichen Teil von dem, was Leben ausmacht.
Sozialwissenschaftler haben vor allem zwei negative Effekte dieses Trends zum Cocooning festgestellt: Es führt beim Einzelnen auf Dauer zu massiver Vereinsamung und der soziale Einsatz in der Gesellschaft geht stark zurück.
Eine Pfarrgemeinde zum Beispiel wäre nicht denkbar ohne den Einsatz von vielen Ehrenamtlichen. Die würden manches Mal vielleicht auch lieber daheim die Füße hochlegen und sich einen gemütlichen Abend machen. Aber ihr Glaube, ihre Pfarrei ist ihnen so wichtig, dass sie sich immer wieder aufmachen, auch wenn es Zeit kostet und manchmal Kraft und Nerven. Und nicht anders ist das in Vereinen und sonstigen sozialen Gruppierungen.
Ich bin sicher: Es wäre ein großer Verlust an Lebensqualität, wenn es solche Leute nicht gäbe. Wenn alle sich daheim einigeln, gibt es keine Pfarrei mehr, keinen Kindergartenförderverein, keine Freiwillige Feuerwehr, keinen Sportverein, keinen Elternbeirat und keine Schulweghelfer, kein Fest und kein Konzert. Dann ist unser Ort tot. Dann verpassen aber viele auch einen wesentlichen Teil vom Leben. Dann ist die Zeit nicht erfüllt, sondern tot. Dann wird sie vor dem Fernseher oder am Computer totgeschlagen. Dann ist das Reich Gottes nicht nahe herbeigekommen, sondern rückt in weite Ferne. Dann ist Leben nicht mehr Begegnung und Beziehung, sondern Vereinzelung und Isolation. Wir brauchen ein Zuhause – ja, sicher -, wir sollen uns gerade daheim wohlfühlen. Aber es wäre schlimm, wenn wir uns nicht zuzeiten daraus herausrufen lassen.
Die Sozialforscher haben versucht herauszufinden, welches tiefere Gefühl hinter dem Cocooning steckt. Und sie sind sich einig: Es ist die Angst. Angst vor der Welt da draußen, die uns fordert. Jesus aber sagt uns: „Fürchtet euch nicht!“ Er will offensichtlich nicht, dass wir aus Angst am Leben vorbeileben. Darum ruft er uns heraus aus den eigenen vier Wänden zu Begegnungen, zum Einsatz für unsere Mitmenschen, zu erfüllter Zeit, zum Leben in Fülle. Hören wir auf seinen Ruf! Lassen wir uns von ihm herauslocken auf den spannenden Marktplatz des echten Lebens!
In diesem Sinne, liebe Schwestern und Brüder: Wohnst du noch oder lebst du schon?

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