. . . und drum herum
Eisbad in der Menach
Den Winter 1947 wird Alois Bernkopf wahrscheinlich nie vergessen. Nicht nur, weil er damals als Flüchtling in den heutigen Landkreis Straubing-Bogen kam und wochenlang in einer Küchenbaracke leben musste, sondern weil ihn der Gang zum Milchholen fast das Leben gekostet hätte.
Nach mehreren Jahren erlebten wir in Bayern im Januar 2017 wieder eine Kältewelle. Die Durchschnittstemperatur betrug minus 4,8 Grad Celsius. Die niedrigste Temperatur wurde in Reit i. W. mit minus 26 Grad gemessen. Die ältere Generation erinnerte sich dabei wieder an die kältesten Winter der letzten 70 Jahre. Die kältesten Winter waren in den Kriegs- und Nachkriegsjahren; hier besonders die Kriegswinter 1940 bis 1943 sowie die Winter 1946/47, 1955/56 und 1962/63. Die kältesten Wintermonate der letzten 70 Jahre waren laut Deutschem Wetterdienst der Februar 1956 mit minus 9,6 Grad, der Januar 1963 mit minus 7,5 Grad und der Februar 1947 mit minus 6,6 Grad Durchschnittstemperatur.
Unser Transport im Oktober 1946 war einer der letzten aus dem Landkreis Trautenau im östlichen Teil des Riesengebirges. Zum Glück wurden wir nicht in die sowjetische Zone verfrachtet, sondern wir kamen über den Grenzbahnhof Furth im Wald in die amerikanische Zone. Da die Bauernhöfe und sonstigen Häuser schon mit Flüchtlingen belegt waren, landeten wir im ehemaligen RAD (Reichs-Arbeits-Dienst)-Lager Muckenwinkling, damals Gemeinde Agendorf. Es bestand aus etwa zehn Baracken.
Weil alle Baracken schon belegt waren, wurden wir mit 20 Personen in der ehemaligen Küchenbaracke einquartiert. Als einziger Einrichtungsgegenstand befand sich in dem etwa 50 Quadratmeter großen Raum mit Steinfußboden ein großer Küchenherd. Alle standen ratlos vor den Habseligkeiten, die als Gepäck mitgenommen werden durften.
Nach einiger Zeit erschien der Lagerleiter, der in gebrochenem Deutsch erklärte, wir sollten uns Stroh von den Bauernhöfen im nahen Muckenwinkling holen, denn die amerikanischen Feldbetten würden erst in einigen Wochen geliefert. Da die versprochenen Feldbetten aber erst im Frühjahr geliefert wurden, musste das Stroh bis dahin als Nachtlager dienen. Das sollte sich sogar als Vorteil erweisen, denn das Stroh auf dem Steinfußboden erwies sich in dem kalten Winter als hervorragende Isolation.
Aus der Zeit des Lagerlebens im Winter 1947 will ich hier nur ein Erlebnis erzählen, an das ich mich am deutlichsten erinnere, denn es hätte beinahe mein Leben gekostet.
Die Milch, die wir auf den Lebensmittelmarken zugeteilt bekamen, mussten wir von der Milchausgabestelle in Oberalteich holen. Zweimal pro Woche machte ich mich mit einer großen Kanne auf den Weg, denn das Milchholen war für mich als Neunjähriger meine Aufgabe. Mein um ein Jahr jüngerer Cousin begleitete mich meist auf dem etwa drei Kilometer weiten Weg.
Anfang Februar war die Temperatur auf minus 20 Grad gesunken. Auf halbem Weg in der Ortschaft Furth führt eine Brücke über die Menach, die hier durch den Rückstau eine beachtliche Breite erreicht. Damals gab es noch keine elektrischen Kühlanlagen, deshalb holten die Wirte Eis als natürliches Kühlmittel aus Bächen und Weihern. Wenn das Eis die nötige Stärke erreicht hatte, wurde es in Brocken herausgesägt und auf Wagen geladen. Durch den lang anhaltenden Frost hatte das Eis in diesem Winter die Stärke von 30 Zentimetern erreicht.
Um den langweiligen Marsch etwas aufzulockern, rutschten wir in der Nähe der Brücke auf dem Eis herum. Es war spiegelglatt. Da bemerkten wir, dass sich auf dem Teil der Fläche, auf der das Eis herausgeholt worden war, bereits eine neue Eisdecke gebildet hatte. Ob die wohl schon tragen würde? Natürlich musste ich dies als Älterer von uns testen. Ich nahm einen Anlauf und rutschte etwa fünf Meter über die dünne Eisdecke, die sich bedenklich unter mir bog. Nun war ich auf der anderen Seite des Baches und musste wieder zurück. Ich wagte es noch einmal: Plötzlich riss die Eisdecke – und ich versank in der eiskalten Flut.
Wer jemals in Lebensgefahr war, weiß, welche Kräfte ein Mensch in einer solchen Situation entwickeln kann. Wild mit den Armen um mich schlagend, kämpfte ich mich durch das splitternde Eis und erreichte die stärkere Eisschicht, auf die ich mich hinaufstemmte. Mein Cousin stand wie erstarrt am Ufer und hatte vor Schreck vergessen, um Hilfe zu rufen. Da stand ich nun, vor Nässe von Kopf bis Fuß triefend. Durch die starke Kälte gefror meine Kleidung im Nu – ein Eispanzer umgab mich.
Zur Milchstelle waren es noch eineinhalb Kilometer und von dort nach Hause zurück wieder drei Kilometer. Aber ich durfte nicht ohne Milch nach Hause kommen! Also marschierte ich in meinem „Eisanzug“ weiter.
Die Frau in der Milchabgabestelle rief erstaunt: „Wie siehst du denn aus!“ Und fragte mich, wo ich wohne. Ich antwortete: „Ich wohne im Lager Muckenwinkling und bin auf dem Eis eingebrochen.“ „Da musst du aber schnell heimlaufen, damit du nicht erfrierst“, war ihr wohlmeinender Rat. Das tat ich dann auch, so gut es in diesem Zustand ging.
Zu Hause angekommen, reagierte meine Mutter schnell; sie stellte mich in einen Blechbehälter und übergoss mich mit brühend heißem Wasser. Schnell löste sich mein Eispanzer und ich befand mich wieder im Normalzustand. Ich wurde nicht einmal krank, denn die Eisdecke der Kleidung hatte wie eine Isolierschicht gewirkt.
Quelle: Alois Bernkopf/BOG Zeitung vom 4. März 2017 (Zeitversetzte Übernahme aufgrund einer 14-tägigen Sperrfrist.)
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