Leben in der Baracke bei minus 20 Grad
Alois Bernkopf:
Erinnerungen an das Flüchtlingslager Muckenwinkling im Winter 1946/47
Einzug ins Lager
Der Lastwagen, auf den wir nach einer dreitägigen Eisenbahnfahrt von Nordostböhmen in Straubing verladen wurden, fuhr über regennasse Straßen und durch große Pfützen nach Norden. Gelegentlich sah man dunkel gekleidete Gestalten zur Seite springen, um nicht vollgespritzt zu werden. Es waren Kirchgänger. Es war Sonntag. Nach etwa einer halben Stunde fuhren wir steil bergan und hielten vor einer Baracke. Diese Baracke sollte für sieben Monate unsere neue Wohnung werden.
Es war das ehemalige Reichs-Arbeits-Dienst (RAD)-Lager Muckenwinkling, damals Gemeinde Agendorf, Landkreis Straubing. Es bestand aus zehn Baracken. Alle waren bereits bewohnt. Wir wurden in die noch leerstehende Küchenbaracke einquartiert. Wir, das waren meine Mutter, meine Schwester, meine Tante, mein Cousin und ich. Außer uns wurden noch 15 Personen eingewiesen.
In dem etwa 60 Quadratmeter großen Raum befand sich als einziger Einrichtungsgegenstand ein riesiger Küchenherd. Der Fußboden war aus Steinplatten. Die 20 Personen teilten sich schnell in sechs Gruppen auf. Jede Gruppe versuchte die mitgebrachten Habseligkeiten in einer Ecke des Raumes zu deponieren. Da es nur vier Ecken waren, gab es Probleme. Meine Tante bemerkte zum Glück als erste, dass sich neben dem Küchenraum noch ein zweiter schmaler Raum befand, der wahrscheinlich als Vorratsraum gedient hatte. Schnell nahmen wir fünf die Hälfte des Nebenraumes in Besitz. Die andere Hälfte bezog eine ältere Frau mit ihrer Tochter.
Das nächste Problem war: Wo sollten wir schlafen? Auch diese Frage wurde den Umständen entsprechend gelöst. Nach einiger Zeit kam ein stattlicher Mann in unsere Baracke und erklärte in gebrochenem Deutsch, dass die amerikanischen Feldbetten erst in einigen Wochen geliefert würden. Es war der Lagerleiter, ein ehemaliger belgischer Kriegsgefangener. Die Erwachsenen und Jugendlichen schleppten Strohballen von den Bauernhöfen des ein Kilometer entfernten Dorfes Muckenwinkling den Berg herauf. Das Stroh wurde auf einer Seite der Baracke aufgeschüttet und mit Tüchern abgedeckt. Das Nächtigungsproblem war fürs erste gelöst.
Wir Kinder erkundeten die neue Umgebung. In einem Teil des Lagers entdeckten wir an Stöcke angebundene, verwelkte braunblättrige Stauden. Sie trugen rote, gelbe und noch grüne Früchte. Wir pflückten einge ab und zeigten sie meiner Mutter. Sie sagte ganz erstaunt: „Das sind ja Paradeiser!”Das ist das österreichisch-böhmische Wort für Tomaten.
Unsere neuen Nachbarn
Weil unser Tamsport einer der letzten Flüchtlingstransporte aus dem Sudetenland war, waren die anderen Baracken schon belegt. Bald merkten wir, dass unsere Baracke die einzige war, in der deutsch gesprochen wurde. In den übrigen Baracken wohnten „Volksdeutsche” aus den verschiedenen Ländern Osteuropas, aber auch Weißrussen, Russen, Ukrainer, Armenier, Georgier ..., die als zivile Hilfskräfte oder als Kampfeinheiten unter General Wlassow während des Krieges auf Seite der Deutschen standen. Sie konnten oder wollten nicht mehr in die Sowjetunion zurückkehren und galten als „Displaced Persons”. Aber auch Slowenen, Kroaten waren darunter, meist ehemalige Kriegsgefangene. Aus einigen Baracken ertönte oft lautes Reden, Gesang und Gegröle. Später erfuhren wir, dass Schnaps, aus Kartoffeln und Zuckerüben gebrannt, die Ursache für diese ungewohnte Fröhlichkeit war.
Kartoffeln, Kartoffeln, Kartoffeln...
Das Hauptproblem war die Nahrungsbeschaffüng, denn die mageren Rationen der Lebensmittelkarten konnten den Hunger nicht stillen. Außer an Haferflockensuppe kann ich mich nur noch an Kartoffelgerichte auf dem Speiseplan erinnern: Kartoffelsuppe, Kartoffelpuffer, Pellkartoffeln, Bratkartoffeln. Durch die geringe Zuteilung von Lebensmitteln waren wir auf „Selbstversorgung angewiesen. Im Spätherbst, Ende November, hatte meine Tante in der Nähe des Lagers einen Acker entdeckt, auf dem vereinzelt noch Kartoffeln lagen, die vom Kartoffelroder zerschnitten oder bei der Feldbestellung an die Oberfläche gekommen waren. Also gingen wir am Nachmittag mit aus Tüchern hergestellten Säcken zu dem besagten Feld. Nach etwa einer Stunde war mein Säckchen halb voll. Doch da nahte das Verhängnis: Der Bauer, dem das Feld gehörte, näherte sich, entriss mir wütend mein Säckchen und verstreute die mühsam gesammelten Kartoffeln auf dem Felde. Vor Schrecken und Wut heulend rannte ich davon. Der Bauer schimpfte hinter mir her, aber ich verstand seinen Dialekt nicht.
Bald mussten wir auch die Schule besuchen. Sie war in Oberalteich, drei Kilometer vom Lager entfernt Da der Schulweg durch das Dorf Muckenwinkling führte, das nur aus Bauernhöfen bestand, gab es die Möglichkeit, Pausebrot zu „betteln”. Bei einigen musste man, bevor man etwas bekam, ein Gebet sprechen. Das empfand ich entwürdigend und „fragte” dort nicht mehr nach Brot.
Das Heizproblem
Der riesige Küchenherd konnte zwar die Töpfe für die 20 Bewohner der Baracke aufnehmen, aber er verschlang Unmengen Brennmaterial. Auf die Holzzuteilung, die noch vor dem Winter eintreffen sollte, warteten wir vergebens. So war die wichtigste Tätigkeit, solange noch kein Schnee lag, Brennmaterial im nahe gelegenen Wald zu sammeln. Aber dafür musste man sehr weit laufen; denn in der Nähe des Lagers war der Wald wie ausgekehrt und die dürren Äste waren weit die Stämme hinauf abgesägt. Nach einer stürmischen Nacht hatte man Glück, dann lagen oft abgebrochene Zweige und Äste auf dem Waldboden.
Aber nicht alle „Holzsammler” begnügten sich mit Zweigen und Ästen, sondern sägten ganze Bäume um. Das konnten natürlich nur kräftige Männer. Holzfrevel wurde schwer bestraft, deshalb erschien die Polizei oft im Lager. Die Polizisten trugen noch keine Uniform. Sie hatten nur weiße Armbinden mit einem schwarzen P darauf. Einmal kam die Polizei auch in unsere Baracke. Wir dachten, sie suchten nach Holzdieben. In Wirklichkeit fahndeten sie nach Destillationsgeräten zur Alkoholgewinnung. Sie merkten jedoch gleich, dass sie hier nicht fündig würden.
Die Baracke brennt!
Allmählich gewöhnten wir uns an die fremdartigen Nachbarn. Sie waren immer freundlich zu uns Kindern. Nur wenn die Männer betrunken waren, gingen wir ihnen lieber aus dem Weg. Manchmal ertönten melancholisch-schwermütige Gesänge aus einer der Baracken. Es wurde russisch-orthodoxer Gottesdienst gefeiert. Wir Kinder lauschten neugierig im Vorraum, aber wir trauten uns nicht hinein.
Einmal wurden die Männer mit der fremden Sprache beinahe unsere Lebensretter. Der alte Herr Swaton, ein gelernter Schlosser, hatte aus Blechabfällen drei Blechöfen gebastelt. Wenn sie glühten, gaben sie herrliche Wärme ab. Das viele Heizen überforderte natürlich den kleinen Kamin und das grüne Reisig erzeugte viel Ruß. Eines Nachts ertönte plötzlich lautes Männergebrüll vor unserer Baracke. Die Tür wurde aufgerissen. Der Kamin brannte und das Feuer griff schon auf das Dach über. Männer schaufelten in Windeseile Schnee auf das Dach und löschten so das Feuer. Wahrscheinlich haben sie uns damit das Leben gerettet.
Der kalte Winter 1946/47
Der Winter 1946/47 war einer der kältesten im 20. Jahrhundert. Nach Auskunft des Deutschen Wetterdienstes betrug der Mittelwert aller Winter in den vergangenen 220 Jahren minus 0,4° C. Der Mittelwert der Temperatur im Winter 1946/47 war minus 3,9° C, im Februar sogar minus 5° C. Die Holzlieferung, die für uns vorgesehen war, erreichte uns erst im März. Wer jemals eine Baracke von innen gesehen hat, weiß, wie dünn die Wände sind. Es waren einfache Holzbretter ohne Isolierung. Von der Nordseite aus konnte man ohne Schwierigkeit von außen durch die Ritzen zwischen den Brettern die beiden Türme der Klosterkirche Oberalteich erkennen.
Fotos:
1 Ein "Zuhause" für sieben Monate: das ehemalige Reichs-Arbeits-Dienst-Lager Muckenwinkling - im Hintergrund der Bogenberg und Kloster Oberalteich
2 Die "Flüchtlingsbaracken" in Muckenwinkling
Geschichtlicher Hintergrund
Im Zeitraum von 1944 bis 1950 mussten nach Angaben des ehemaligen Bonner Ministeriums für Vertriebene 17 Millionen Deutsche das Drama von Flucht, Vertreibung und Deportation erleiden. Nach dieser größten „Völkerwanderung” der Neuzeit blieben 4,5 Millionen verschollen, 2,2 Millionen davon kamen dabei ums Leben.
Es ist sicherlich eine der größten Leistungen der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene nicht nur aufgenommen, sondern nach verhältnismäßig kurzer Zeit auch integriert wurden.
Durch seine geographische Lage musste Bayern im Jahre 1946 natürlich die größte Zahl der Vertriebenen aus dem Sudetenland aufnehmen. Ein großes Problem bei der bestehenden Notlage war dabei die gerechte Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Regionen. Niederbayern war besonders schwer betroffen. Hier betrug der Flüchtlingsanteil 25 Prozent der Bevölkerung, während es im Landesdurchschnitt „nur” 20 Prozent waren. Auch von Landkreis zu Landkreis war der Anteil verschieden. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes (Volkszählung vom 29. Oktober 1946) waren es im damaligen Landkreis Straubing mehr als 27 Prozent.
Wohnungsnot und Nahrungsmangel war eines der größten Probleme, die wir nach der Vertreibung aus dem böhmischen Riesengebirge zu spüren bekamen. Als damals neunjähriges Kind erinnere ich mich nach fast 60 Jahren noch gut an diese schwere Zeit.
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