Leben in . . .
Die Liebe der Minnesänger
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Referat zur Ausstellung 1995 zur 800-Jahr-Feier in Mitterfels von Reinhard Herbst
„Was hat Mitterfels eigentlich mit dem Minnesang zu tun?“ Diese Frage lässt sich jedoch leicht beantworten. Das Jahr, in dem Mitterfels gegründet wurde …
Ich freue mich, dass ich Sie hier an diesem historischen Ort, an dem einst die mittelalterliche Burg Mitterfels stand, begrüßen darf. „Die Liebe der Minnesänger“ heißt das Thema dieser Ausstellung.
Vielleicht wird sich der eine oder andere fragen: „Was hat Mitterfels eigentlich mit dem Minnesang zu tun?“ Diese Frage lässt sich jedoch leicht beantworten. Das Jahr, in dem Mitterfels gegründet wurde bzw. die Zeit, in der Mitterfels entstand, liegt in der Blütezeit des Minnesangs. Ich bin sicher, dass Bürgermeister Herr Lang deshalb ganz bewusst diese Ausstellung an den Anfang der 800-Jahr-Feier gestellt hat, da sie uns in jene Geschichtsepoche versetzt, in der das heutige Mitterfels zu wachsen begann.
Beginnen wir also mit der kulturellen Situation, wie sie zur Geburtsstunde von Mitterfels bestand. Drehen wir dazu das Rad der Zeit einfach um 800 Jahre zurück.
Wir schreiben dann das Jahr 1195 und befinden uns in der damaligen Burg Mitterfels. Als Burgherr oder „castellanus“ begrüßt uns „Berchtoldus de Mitterfels“, Ministeriale der Grafen von Bogen. Als höfisch gebildeter Mann hätte er beim Anblick der hier versammelten Weiblichkeit sicher ausgerufen: „Euere Schönheit, meine Damen, würde für tausend ausreichen! Gott war in guter Laune, als er Euch so ebenmäßig geschaffen hat. Hier ein wenig üppig, anderswo wieder ganz zart gebaut, Nichts an Euch ist vergessen worden!“
Gehen wir einmal davon aus, dass Berchtoldus de Mitterfels zu diesem Zeitpunkt etwa 30 Jahre alt war und er 60 Jahre alt wurde. Von welchen großen Ereignissen aus seiner Zeit könnte er uns berichten? Was waren beherrschende Themen zur Zeit der Entstehung von Mitterfels? Schlagzeilen im heutigen Sinn wären vielleicht gewesen:
- Der Franziskaner- und der Dominikaner-Orden entstehen.
- Franziskus fordert, nur selbst erarbeitetes Brot zu essen.
- Walther von der Vogelweide geißelt die Habgier des Papstes.
- Das Nibelungenlied entsteht durch Zusammenfassen einzelner Sagen.
- Die Steinerne Brücke in Regensburg feiert ihr 50jähriges Bestehen.
- Friedrich Barbarossa stirbt auf dem 3. Kreuzzug.
- Die katholische Kirche führt die Weihe der Ostereier ein.
- Graf Albert III. von Bogen stirbt nach der Rückkehr von einem Kreuzzug.
- Herzog Ludwig von Bayern heiratet Ludmilla, die Witwe von Albert III.
- Herzog Ludwig von Bayern gründet Landshut, Straubing und Dingolfing.
Berchtoldus würde uns aber sicher auch über die Brutalität seiner Zeit erzählen, über gemordete Greise, vergewaltigte Frauen, ausgerissene Weinstöcke, zerstörte Felder, angezündete Dörfer und geschändete Grablegen. Grausamkeit bzw. das Empfinden davon lag damals auf einer ganz anderen Ebene als heute. Man gab im Sprechen wie im Handeln den eigenen Affekten offener nach. Man ließ seinen besiegten Gegnern die Haut abziehen, blenden, entmannen oder verstümmeln. Das Grausame, Rohe, Grobianische war dabei nicht nur auf die Bauern beschränkt. So sagte Norbert Elias einmal: „Das Gros der damaligen weltlichen Oberschicht führte das Leben von Bandenführern.“
Berchtoldus de Mitterfels! Wie mag er über die Frauen gedacht haben? Vielleicht vertrat auch er die Meinung mancher kirchlicher Vertreter. So schreibt der alternde Augustinus: „Ich weiß nicht, wozu die Frau dem Manne als Hilfe gegeben wäre, wenn nicht zum Kinderkriegen.“ Maximus von Turin sagte in einer Predigt: „Die Ursache allen Übels ist das Weib!“ Noch für Hus galt: „Schönheit gleich Versuchung - gleich Sünde.“ Die Katharer glaubten, dass weibliche Seelen, sofern sie überhaupt das Paradies erreichten, dort nicht in Frauengestalt Einlass fänden, sondern einen männlichen Körper annähmen. Sexualität und Liebe im Mittelalter können deshalb nur aus der damaligen Zeit heraus verstanden werden. Auch in der Beziehung zwischen Mann und Frau dominierte fürs Erste das Derbe und Rohe. In der erotischen wie in der frommen Literatur gibt es kaum eine Spur echten Mitleids mit der Frau, ihrer Schwachheit und den Gefahren und Schmerzen, die ihr die Liebe bereitet. Die Frau war ein Ding, an dem man sich abreagierte, ein Objekt des Mannes.
Berchtoldus de Mitterfels, Ministeriale der Grafen von Bogen, ein Angehöriger des Ritterstandes! Wie wurde er und die Ritter im Allgemeinen um diese Zeit von der Bevölkerung gesehen? Man ist geneigt zu glauben, die Ritter seien, weil sie die Christen gegen Mohammedaner, Wikinger, Ungarn und andere Feinde verteidigten, vom Volk als Retter der Heimat dankbar verehrt worden. Doch das Gegenteil war der Fall - kurz gesagt: man fürchtete sie wie die Pest. Bernhard von Clairveaux nannte die Ritter mit einem lateinischen Wortspiel „non militia sed malitita: keine Ritter, sondern ein Übel“. Ob unser Berchtoldus de Mitterfels noch zu dieser Art von Rittern gehörte, wissen wir natürlich nicht, denn das Bild des Ritters begann sich unter dem Einfluss der Kirche langsam zu ändern. Die Kirche trat nämlich auf Grund der Willkür und Brutalität der Ritter zum ersten Mal als weltlicher Gesetzgeber auf. Danach stellte sie Kirchen, Kapellen, Wallfahrtsorte, Gasthäuser, Märkte, Priester, Mönche, Pilger, Frauen und reisende Kaufleute unter den besonderen Schutz des Gottesfrieden. Zur Durchsetzung des Gottesfriedens rief die Kirche die Anständigen und Frommen unter den Rittern auf, ihr bei ihren Friedensbemühungen zur Hilfe zu eilen, notfalls mit der Waffe in der Hand. Damit hatte die Kirche ein neues Ideal geschaffen: das Ideal des „christlichen Ritters“.
Aber auch die Kreuzzüge trugen zur Vollendung des Idealbildes vom christlichen Ritter in zweifacher Hinsicht bei:
1. Der Aufruf zum Heiligen Krieg hatte die Ritterschaft, die ursprünglich aus unfreien Dienstmannen bestand, so stark aufgewertet, dass nun auch Grafen, Herzöge und selbst Könige und Kaiser an diesem Ruhm teilhaben wollten. Durch den Beitritt des Adels fiel nun auf die gesamte Ritterschaft ein Glanz von Macht und Ansehen. Dadurch sahen sich die niederen Ritter veranlasst, den Lebensstil der Vornehmen so weit wie möglich nachzuahmen.
2. Die Kreuzzüge führten zu einem internationalen Kulturaustausch. Gerade durch die Begegnung mit südfranzösischen Rittern lernten die deutschen Ritter Minnelyrik kennen, bevor sie in Deutschland entstand. Aber auch von den Mohammedanern lernten die oft rohen und tölpelhaften europäischen Ritter nicht zuletzt auch den phantasievollen Umgang mit Frauen und der Liebe. All dies trug dazu bei, dass hier eine ritterliche Kultur entstand, die es vorher so nicht gegeben hatte. Diese Kultur bildete den Nährboden für das Entstehen des Minnesangs auf deutschem Boden. Während sich das Leben des adeligen, ritterlichen Kriegers „nur“ um das Waffenhandwerk dreht, wird die Frau der höheren Schicht für geistige Bildung, für Lektüre freigesetzt. Schon während des 12. Jahrhunderts ist die Bildung der Frau „durchschnittlich feiner als die des Mannes“. So schält sich langsam eine gesellschaftliche Dominanz der Frau heraus. Die Frau gewinnt jetzt an Geltung, die in der fortschreitenden Verweltlichung der Kultur nur noch zunehmen wird. Von der fluchwürdigen Sünderin stieg die Frau nun zur strahlenden Figur am adeligen Hofe auf. So hatten die Ritter auch der Gemahlin ihres Herrn, der Dame einen Platz in der höfischen Gesellschaft einräumen müssen.
So kam neben der Kampfeslust der Ritter ein zweites Wertgefüge hinzu: Der Frauendienst, die Huldigung der vornehmen, verheirateten Burgherrin (frouwe), die Minne oder höfische Liebe. So wurden die Ritter in allen Gedichten und Romanen zur höfischen Liebe aufgefordert. Sogar ein Hofkaplan erklärt in einer Schrift „Über die Liebe“: „Eine Ehe ist keine echte Entschuldigung dafür, nicht zu lieben.“ Im Gegenteil: gerade, weil durch die Ehe feste Grenzen gesetzt waren, die die Minne nicht überschreiten durfte und wollte, konnte ihr irrealer Charakter um so eindringlicher betont werden. Deshalb durfte diese Art von Liebe auch nie einem unverheirateten Mädchen entgegengebracht werden.
Der Minnedienst beschränkte sich jedoch nur auf bestimmte höfische Kreise, wo man Langeweile und dementsprechend auch genug Zeit halte, das Spiel richtig auszukosten. So verlangte der Dienst für die Frau auch höfische Lebensart und die Fähigkeit des Dichtens und Singens. Jeder, der zu den ritterlichen Versammlungen zugelassen werden wollte, war gehalten, eine Dame zu erwählen und ihr zu dienen. Den Grund des Dienens erfährt man bei Walther von der Vogelweide:
„All mein Glück liegt bei einer Frau.
Deren Herz ist so vollkommen gut
und deren Gestalt so schön,
dass man sich wünscht, ihr zu dienen.“
Die höfische Liebe kehrt somit die normalen Beziehungen zwischen Mann und Frau um.
In der Wirklichkeit des Lebens gebietet der Herr über seine Gemahlin. In der höfischen Liebe dagegen dient er seiner Dame, er fügt sich ihren Launen, er unterwirft sich den Prüfungen, die sie ihm abverlangt. Vor ihr lebt er auf Knien liegend, und diese Haltung entsprach der Haltung des Vasallen gegenüber seinem Herrn. Schließlich muss er sie auch noch mit Aufmerksamkeit umgeben. Er macht ihr den Hof, das heißt, auch hier dient er ihr. Allerdings erwählt der Ritter keine Jungfrau, sondern die Frau eines anderen. Sein Ziel ist, die Liebe der Gemahlin eines anderen zu gewinnen. Für diese Eroberung entfaltete er eine genau durchdachte Strategie, die an eine ritualisierte Übertragung der Techniken der Jagd erinnert. So schreibt Der von Kürenberg:
„Weiber und Jagdvögel,
die werden leicht zahm.
Wenn man sie lockt,
dann fliegen sie auf den Mann.“
Diese Strategie wurde in Wirklichkeit aber fast von Anfang an als Spiel konzipiert. Ein Regelspiel, das der Zerstreuung diente, aber in aller Ehre betrieben wurde, d. h. unter strenger Einhaltung der Vorschrift. Diese Vorschrift bestimmte genau, was dem Ritter und seiner auserwählten Dame erlaubt war, bzw. zeigte die Grenzen auf, innerhalb denen sich der Ritter und seine Dame bewegen durften. Die Einhaltung dieser Vorschrift wurde von der Gesellschaft und den Aufpassern genau überwacht. Das einzige, was danach dem Ritter die Minne erlaubt, ist der lyrische Kult an der erwählten „frouwe“, der Ausdruck seiner Verehrung im Lied. So wird deutlich, was hohe Minne bedeutet: ein keuscher Kult der „frouwe“, Verehrung des Weiblichen um seiner selbst willen. Das eigentliche Ziel der höfischen Dichtung ist also erzieherisch-sittlicher Art: Ritterliches Menschentum und höfische Lebensgestaltung sollten beispielhaft vergegenwärtigt werden. Es ging um die Leitbilder des vollkommenen Ritters und der vollkommenen Dame, es ging um die Erziehung zum Kavalier.
Trotzdem lebte in den Hofriten die Liebe gewöhnlich von der Hoffnung auf den Endsieg, der die Dame veranlassen sollte, sich ganz und gar hinzugeben. Er wartete, bis sie ihm ihre Gunst erwies.
Die höfische Liebe ist jedoch keine sexuelle Ausschweifung. Ihrem Prinzip nach ehebrecherisch, nimmt sie zunächst einmal Rache an den ehelichen Zwängen. In der Feudalgesellschaft bestand das Ziel einer Heirat darin, den Ruhm und den Reichtum eines Hauses zu erweitern. Der Ehepartner wurde deshalb von dem Ältesten des Familiengeschlechts bestimmt. Die höfische Liebe jedoch ermöglicht Auswahl. Sie verwirklichte genau die Wahl, die die Heiratsprozedur verbot.
Nach romanischen Vorbildern wurde nun diese Art von Frauenhuldigung das Hauptmotiv der deutschen Lyrik, die unter dem Begriff Minnesang in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Die Minnelyrik wurde im Unterschied zu heute nicht im stillen Kämmerlein gelesen, sondern bei Festen und festlichen Anlässen zur Unterhaltung der Gesellschaft vorgetragen. Minnesang und Minnedienst waren eine Pflichtübung für jeden Ritter und galten als elitäre Gepflogenheiten und Standesprivilegien. Selbst Kaiser und Könige sahen eine Auszeichnung darin, sich als Minnesänger hervorzutun. Minnesang war also Standespoesie. Von einem Angehörigen der adeligen Gesellschaft zur Unterhaltung dieser Gesellschaft verfasst. Wer zu diesem kleinen Kreis gehörte, der hatte gesellschaftliches Ansehen.
So gründete Walther von der Vogelweide sein Selbstwertgefühl vor allem darauf, dass er mit dem Minnesang an der Kunst der Edlen teilhatte. Denn der Minnesang war eine höfische Herrenkunst. Er dient zur Unterhaltung der aristokratischen Gesellschaft, nicht aber zum Unterhalt des Lebens. So schreibt von Buwenburg:
„swer getragener Kleider gert,
der ist niht minnesanges wert.“
Im Minnesang wird eine nicht genannte, sozial höher stehende, vornehme und verheiratete Frau, der der Sänger seinen Dienst anbietet, verherrlicht. Der Ritter verstand Minne als „dienest“. So schreibt Meinloh von Sevelingen:
„Weißt du, schöne Herrin, was dir ein Ritter entbot? Heimlich seinen Dienst. Nie gab es für ihn größeres Glück.“
Für seine „arebeit“ (Mühe, Pein) erhoffte er von seiner Herrin seinen „lon“ (Gegenleistung). So heißt es bei Heinrich von Veldeke: „Minnesold werde ich von ihr zum Lohn erhalten.“ Dieser Lohn bestand aus zarter Aufmerksamkeit, Bewunderung und vielleicht Zuneigung, ja, Liebe, die aber jede körperliche Hingabe ausschloss. Albrecht von Johansdorf lässt eine Frau in einem Lied sagen:
„Folgt meinem Rat
und unterlasst die Bitte, die niemals erfüllt wird!
Gott gewähre euch anderswo, was ihr von mir begehrt.“
Denn erhörte die „frouwe“ das Werben des Dichters bzw. Ritters, wäre sie in seinen und in den Augen der Gesellschaft nicht mehr das erhabene Wesen, als das es im Minnelied gefeiert wird. Sieht man von diesen Einschränkungen ab, so kann man den Minnesang dennoch als eine Liebesdichtung verstehen. Gewiss betonen die Minnesänger ein erotisches Ziel und halten auch - trotz der Bereitschaft zu ungelohntem lebenslangen Dienen - an diesem Ziel fest.
Bernger von Horheim schreibt:
„Ich singe und sang. Bezwänge ich doch die Gute,
damit mir ihre Liebe wohl täte. Denn sie ist gut.“
Bei Ulrich von Lichtenstein erfahren wir, von welchem Lohn die Minnesänger träumten:
„Der Lohn der Minne wird dort vollkommen erlangt,
wo ein Mann und eine Frau um ihre Körper vier Arme legen,
hüllenlos.
Großes Glück wird da von beiden erfahren.“
Häufiger aber ist die Klage darüber, dass die Dame sich dem Minnenden versagt. So heißt es bei Rudolf von Fenis:
„Es wäre ein Zeichen von Vernunft bei mir, wenn ich dort würbe,
wo ich auf Lohn von der Minne rechnen könnte.
Auf Lohn setze ich keine Hoffnung mehr.
Ich diene immer dort, wo es mir überhaupt nichts nützt.“
Nach Reinmar von Hagenau sollte der Minnesänger auch die höfische Gesellschaft erziehen, indem er das unnahbare Wesen der Minneherrin als mustergültiges Verhalten vorführt.
Politische und gesellschaftliche Veränderungen führten zu einem allmählichen Zerfall der höfischen Kultur und damit verlor sich auch das standesgemäße Minnelied.
Die Minnesänger verloren die Freude, Frauen, ohne Aussicht auf Erfolg, weiter zu verherrlichen und ihnen zu dienen. So schreibt Hartmann von Aue:
„Den Damen gegenüber habe ich eine Einstellung:
wie sie zu mir sind, so bin ich zu ihnen, denn ich kann mir meine Zeit
mit Frauen geringerer Herkunft besser vertreiben.
Wohin ich auch komme, da gibt es viele von ihnen;
Dort finde ich die, die auch mich will.“
Man verlangte nach einer Dichtung mit greifbarem Inhalt. Der Minnesang wird so durch die höfische Dorfpoesie abgelöst, in der das elementare sinnliche Begehren und die ausgelassene Lebenslust im bäuerlichen Bereich geschildert wird. Bei Steinmar heißt es in einem Lied:
„So süß konnte er
an diesem frühen Morgen
mit ihr das Liebesspiel treiben.
Größere Freuden, so ganz ohne Aufwand - wer sah sie je?“
Man kann sich natürlich fragen, ob der Minnesang lediglich eine Modeerscheinung war, die wieder spurlos vorüberging, oder ob er auch Veränderungen einleitete. Hält man sich vor Augen, wie gewalttätig die historische Wirklichkeit war, dann erkennt man, welche zivilisatorische Leistung mit der Aufrichtung der höfischen Ideale und speziell mit der Tabuisierung der Gewaltanwendung gegen die körperlich schwächere Frau erbracht worden ist. Der neu erwachte Geist des Rittertums galt vor allem der Erziehung zur Hofsitte, dem Gegenteil der Grobheit und Tölpelhaftigkeit.
Gegen Ende des 13. Jahrhunderts tauchen auch erstmals Maßnahmen zum Schutz werdender Mütter auf. Wer sagt uns, dass solche Neuerungen mit der durch die Minnelyrik geschaffenen neuen Seelenlage gar nichts zu tun haben.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas über die Quellen sagen, denen wir einen großen Teil unseres Wissens über den Minnesang verdanken. Hier wäre zu nennen die Kleine Heidelberger Liederhandschrift, die Große Heidelberger Liederhandschrift und die Weingartner Liederhandschrift. Diese Ausstellung befasst sich überwiegend mit der Großen Heidelberger Liederhandschrift oder - wie sie auch genannt wird - Manessischen Liederhandschrift. Heidelberger Liederhandschrift nach dem Aufbewahrungsort Heidelberg, Manessische Liederhandschrift nach den Zürcher Bürgern mit dem Namen Manesse, die bei dem Zustandekommen dieser Handschrift wesentlich beteiligt gewesen sein sollen.
Wir können uns natürlich fragen: „Was macht eigentlich diese Handschrift so wertvoll?“ Nun, sie ist die bedeutendste Quelle der höfischen und nachhöfischen deutschen Lyrik, des Minnesangs. Sie beinhaltet die erste „weltliche“ Lyrik auf deutschem Boden. Damit beginnt eine völlig neue Kunstform in der christlich-abendländischen Kultur: eine ritterliche Liebesdichtung. Es war ein großer Schritt, der sich in der Dichtung vollzog und zugleich eine Wende. Neben dem Klerus als alleinigen Träger der Literatur trat ein weltlicher Stand, das Rittertum, und übernahm die Führung des kulturellen Lebens.
Es sind aber nicht nur die Lieder, die dieser Handschrift diese Bedeutung verleihen, sondern auch ihre 137 ganzseitigen farbenprächtigen Miniaturen, die sie zu einer der schönsten und kostbarsten Handschriften des europäischen Mittelalters machen.
Ich habe für diese Ausstellung 84 dieser Miniaturen nachgestaltet. (Vier davon sind hier abgebildet.) Sie halten das Typische der Dichter, der Dichtung und der Zeit im Bild fest und haben unsere Vorstellung von Leben und Welt im Mittelalter bis heute beeinflusst.
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