Mitterfels
Mitterfels/Haselbach. „Wir gehen über unsere Grenzen hinaus“
(wikimedia CC BY-SA 3.0/A. Bohnenstengel) Vergrößern durch Anklicken!
Beim „Treffen pflegender Angehöriger“
haben Menschen, die sich zu Hause um einen Pflegebedürftigen kümmern, die Möglichkeit, sich so manches von der Seele zu reden.
Es sind nur gut eineinhalb Stunden, die die kleine Gruppe an diesem Mainachmittag in der Hien-Sölde in Mitterfels zusammensitzt. Doch bereits nach ein paar Minuten ist zu spüren: Für die, die da auf der Eckbank bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen, sind es unglaublich wertvolle und wichtige eineinhalb Stunden. Es ist eine kleine Auszeit aus ihrem Alltag, über den sie schon lange nicht mehr selber bestimmen können. Denn sie alle haben einen Menschen zu Hause, für den sie rund um die Uhr da sein müssen. Was das wirklich bedeutet, welche Bürde das ist, wie es ihnen gerade geht, darüber können sie einmal im Monat beim „Treffen pflegender Angehöriger“ in Mitterfels reden. Unsere Mediengruppe durfte beim Mai-Treffen zuhören.
Liebevoll haben Sandra Groth und Andrea Baumgartner die Kaffeetafel in der guten Stube der Hien-Sölde gedeckt. Die beiden Quartiersmanagerinnen der Gemeinden Mitterfels und Haselbach, die das monatliche Treffen organisieren, wollen, dass sich die Menschen, die kommen, wohlfühlen. Dass jemand einmal für sie den Kaffeetisch deckt und nicht umgekehrt. Man kennt sich mittlerweile und so dauert es nicht lange, bis das Gespräch in Gang kommt. Auf die Frage, was ihnen denn dieses Treffen gibt, sagt Walter S. (alle Namen von der Redaktion geändert): „Der Austausch tut einfach gut. Zu wissen, dass man nicht allein ist mit diesem Alltag, den man Tag für Tag zu meistern versucht.“
Jeder Tag ist ein Kraftakt
„Dieser Alltag“ – das ist für den 79-Jährigen die Pflege seiner 80-jährigen Frau. Sie hat mittlerweile Pflegestufe 5 und braucht intensive Betreuung – rund um die Uhr. Sie leidet an Alzheimer, hatte eine schwere Krebserkrankung inklusive Operationen und Bestrahlung. Seitdem ist sie harn- und stuhlinkontinent. Fünf bis sechs Erwachsenenwindeln braucht er pro Tag für seine Frau. Die Menge, die von der Pflegekasse bezahlt wird, ist da schnell aufgebraucht. Was er darüber hinaus braucht, zahlt er aus der eigenen Tasche. Jeder Tag ist für ihn ein Kraftakt. Er erzählt von so manchen Alltagssituationen, in denen er oft erst einmal tief durchschnaufen muss, um weitermachen zu können. Verschnaufpausen verschafft ihm drei Mal pro Woche ein Platz in einer Tagespflegeeinrichtung, wo er seine Frau tagsüber hinbringen kann. Auch seine Tochter helfe, wo sie könne. Doch die Hauptlast liegt bei ihm. Ob er schon einmal daran gedacht hat, seine Frau in ein Pflegeheim zu geben? „Nein, das ist für mich keine Alternative. Wir sind seit 57 Jahren verheiratet. Ich möchte meine Frau bei mir haben. Sie ist ein unglaublich liebenswürdiger und gutmütiger Mensch.“ Er hat Tränen in den Augen, als er das sagt.
Neben ihm nickt ein weiterer älterer Herr verständnisvoll. Er weiß genau, was in seinem Sitznachbarn vorgeht. Rainer F. pflegt seit einigen Jahren seine Frau. Sie war krebskrank und hatte vor sechs Jahren einen Schlaganfall. Sie musste alles neu lernen. Gehen, Sprechen, Essen. „Mein Alltag ist an meine Frau gebunden. Für immer“, sagt er. Kraft hole er sich aus der Natur. Bei Spaziergängen. Er achte mittlerweile viel mehr auf kleine Details, die ihm früher nicht aufgefallen sind. Kraft gebe ihm aber auch seine Frau, wenn sie ihm immer wieder ihre Dankbarkeit zeigt. Auch wenn sie es nicht mehr in Worte fassen kann. „Aber wenn sie mich dann oft wieder packt und an sich drückt, dann könnte ich weinen.“ Trotzdem: Ein Spaziergang und eine Umarmung reichen auch ihm oft nicht mehr aus. „Wir alle hier gehen an unsere Grenzen und darüber hinaus“, erzählt er. „Ich bin psychisch an einem Punkt, wo ich selber neurologische Behandlung brauche“, erzählt er. Auch er ist bei seinen Erzählungen oft den Tränen nahe.
„Wir Pflegende haben keine Lobby“
Auch Gabriele R. erzählt von ihrem Pflegealltag. Ihr Mann ist herzkrank und seit einer Rückenoperation nach einem Wirbelbruch nicht mehr sehr mobil und auf Pflege angewiesen. Ihr macht der Alltag vor allem deshalb so sehr zu schaffen, weil ihr Mann nicht der einfachste Pflegepatient ist. Stur und sehr grantig sei er oft. Man könne ihm nur schwer etwas recht machen. Das sei sehr belastend, wenn man ohnehin sein Möglichstes tue.Die Runde macht deutlich: Jeder, der an dem Tisch in der Hien-Sölde sitzt, hat seine eigene, persönliche Geschichte. Doch eins haben sie alle gemeinsam: Sie fühlen sich allein gelassen. „Die Politiker versprechen viel, setzen das Thema in die Koalitionsverträge, doch bei uns kommt keine Hilfe an. Wir Pflegende haben keine Lobby“, sagt Rainer F. …
Zu diesem Gefühl der Aussichtslosigkeit kommt aufgrund der schlechten Situation im Pflegebereich auch noch Angst. Angst davor, was mit ihren Angehörigen ist, wenn sie selber einmal nicht oder nicht mehr in der Lage sind, sich um sie zu kümmern. Walter S. erzählt dazu folgende Begebenheit: Er musste sich einer Augenoperation unterziehen und hätte für fünf Tage einen Kurzzeitpflegeplatz benötigt. Er habe alles versucht, unzählige Telefonate geführt, aber es sei nichts zu machen gewesen. Er bekam keinen Platz. Seine Tochter musste sich kurzfristig Urlaub nehmen und aus Stuttgart anreisen, um auszuhelfen.
„Ich hätte einfach gern die Gewissheit, dass meine Frau versorgt, ist, wenn mit mir etwas ist“, sagt er. Doch diese Gewissheit hat keiner an diesem Tisch. Und so kehren sie nach den eineinhalb Stunden wieder zurück nach Hause. In ihren Alltag. Und werden das tun, was sie immer tun. Ihr Bestes geben und versuchen, zu funktionieren.
Info
Das nächste „Treffen für pflegende Angehörige“ findet am Montag, 17. Juni, um 14 Uhr in der Hien-Sölde Mitterfels statt. Initiator ist das Quartiersmanagement Mitterfels-Haselbach. Jeder, der zu Hause einen Angehörigen pflegt, ist willkommen – auch aus den umliegenden Ortschaften. Eine gesonderte Anmeldung ist nicht notwendig.
Kommentar
Mehr Entlastung
Bemühungen seitens der Regierungen in Bund und Land, die Situation in der Pflege und für pflegende Angehörige zu verbessern, gibt es viele. Die lesen sich im ersten Moment auch alle recht gut. So sollen in Bayern bis 2028 insgesamt 8.000 weitere Pflegeplätze geschaffen werden und der Einsatz von Gemeindeschwestern die häusliche Pflege besser stärken. Allerdings sei die Frage erlaubt, wie angesichts des Personalmangels in diesem Bereich diese Ziele mit Leben gefüllt werden sollen.
Rund 80 Prozent aller Pflegebedürftigen im Freistaat – so steht es in der aktuellsten Pflegeerhebung des Landesamtes für Statistik Bayern vom Jahr 2021 – werden zu Hause betreut. Tendenz steigend. Es müssten also mehr Maßnahmen her, den Pflegenden das Leben zu Hause leichter zu machen. Denn sie tragen die Hauptlast. Nicht die Pflegedienste, nicht die Heime. Mit 8.000 neuen Pflegeplätzen ist ihnen also vorerst nicht wirklich geholfen. Was sie brauchen, ist zuallererst eins: Wertschätzung und Anerkennung für das, was sie Tag für Tag leisten. Denn die fehlt ihnen, das wird bei Gesprächen schnell klar. Im Gegenteil. Sie fühlen sich auch noch gegängelt in dem, was sie tun. Die viele Bürokratie bei der Korrespondenz mit der Pflegekasse, der Geldbetrag für Pflegemittel, der oft hinten und vorne nicht reicht, das neue E-Rezept, das es ihnen noch schwerer macht, schnell an Medikamente für ihre Angehörigen zu kommen. Ein Bürokratieabbau in diesem Bereich würde vielen das Leben zumindest ein bisschen leichter machen.
Das Zweite: Die Familien der Pflegenden müssten noch leichter ins Boot geholt werden können. Denn – auch das zeigen Gespräche mit Betroffenen – wenn es darum geht, dass jemand längerfristige Hilfe bei der Pflege des Angehörigen braucht, dann kommt diese Hilfe fast immer von jemandem aus der Familie. Für den ist das dann nicht selten ein Kraftakt. Der muss vielleicht selber jemanden für die Betreuung seiner Kinder organisieren oder Urlaub nehmen.
Gerade Letzteres ist oft gar nicht so einfach. Es gibt zwar per Gesetz die Möglichkeit, bis zu zehn Tage Sonderurlaub für die Pflege eines Angehörigen zu beantragen. Allerdings muss da ein akuter Pflegenotfall vorliegen, was nicht der Fall ist, wenn bereits ein Pflegegrad vorliegt. Heißt: Wenn der pflegende Vater operiert werden muss und jemanden für die Betreuung der Ehefrau braucht, kann sich die Tochter nicht so einfach Urlaub nehmen. Geschweige denn, wenn ein Pflegender vielleicht einmal ein paar Tage wegfahren möchte, um durchzuschnaufen.
Hier müssten Voraussetzungen geschaffen werden, damit die Pflege für einen Angehörigen leichter auf mehrere Schultern in der Familie verteilt werden kann. Bei der Kindererziehung wird oft das Sprichwort bemüht: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“. Vielleicht ist das bei der Pflege eines alten, kranken Menschen nicht anders.
Verena Lehner/BOG Zeitung vom 28. Mai 2024
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