Kultur
50 Jahre Mitterfelser [geschrieben 1996]
Die Heimat der Familie Pöschl: Heinrichsgrün im Erzgebirge - Vergrößern durch Anklicken
Ein halbes Jahrhundert das Leben mit Heimatvertriebenen geteilt - Was mir die Heimatvertriebenenfamilie Pöschl erzählt hat, und wie ich es selbst erlebt habe
Stellen wir uns vor: Von der Obrigkeit kommt ein Befehl: Innerhalb von 24 Stunden haben wir die Wohnung, Haus oder Hof zu verlassen. Pro Person darf niemand mehr als 50 kg mitnehmen.
Ausweisungsbefehl der tschechischen Behörde an die sudetendeutsche Bevölkerung im Kreis Graslitz - Vergrößern durch Anklicken
Viele von uns würden zu nichts mehr fähig sein. Diejenigen, die trotzdem noch in der Lage wären, vernünftige Gedanken zu fassen, wären gezwungen, sich zu überlegen: Was ist für mich so notwendig, dass ich es unbedingt brauche? Was lasse ich für immer zurück? Der Überlebenswille würde einsetzen.
Dieser visionäre Gedanke der Vertreibung aus der Heimat, der uns heutigen Wohlstandsmenschen Mitteleuropas äußerst schwer fällt, ihn fertig zu denken, ist in der Gegenwart und war in der Vergangenheit grausame Wirklichkeit.
Am 17. Juni 1946, heuer vor 50 Jahren, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, kam von der tschechischen Regierung der Befehl, der oben abgebildet ist. Jeder sudetendeutsche Einwohner hätte sich mit den Habseligkeiten, die er in dieser kurzen Zeit zusammenpackte, an den ausgeschriebenen Sammelstellen einzufinden. Wer nicht transportfähig war oder wer Arbeiten verrichtete, die sonst niemand tun konnte, z. B. ein Maschinist, konnte oder musste bleiben.
Die Deutschen des Sudetenlandes waren von nun an Vertriebene aus ihrer Heimat. Sie sind nicht geflüchtet, nein, sie wurden vertrieben.
Die Familie Karl Pöschl war eine von vielen tausend betroffenen Familien von damals. Sie lebte in der kleinen Stadt Heinrichsgrün im Kaiserwald des böhmischen Erzgebirges. Dort ist eine hügelige Landschaft wie bei uns im Vorderen Bayer. Wald. Sie betrieben da eine Schneiderei mit Gehilfen und Lehrlingen. Die Aufträge erhielten sie hauptsächlich von der Adelsfamilie des Grafen Nostitz, deren Schloss die Stadt überschaute. Frau von Nostitz war eine Tochter des am Anfang des Ersten Weltkrieges in Sarajewo ermordeten Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich.
Sophie Gräfin Nostitz-Rieneck, geborene Fürstin Hohenberg ...
... und ihr Vater Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich († 28. Juni 1914)
Die kleine Stadt Heinrichsgrün hatte ein reiches Kulturleben mit vielen Vereinen. Es war z. B. Brauch, alljährlich eine Fußwallfahrt nach Waldsassen zu unternehmen, die zwei Tage dauerte. Das Stadtbild wurde geprägt vom Schloss und der Pfarrkirche mit dem spätgotischen Turm und der schönen Barockhaube. Als Ganzes eigentlich eine beschauliche, kleinstädtische Idylle, bis der Zweite Weltkrieg auch hier seine Opfer verlangte und tiefe Spuren im ganzen Ortsleben hinterließ. Man atmete auf, als im Mai 1945 alles zu Ende war, nicht ahnend, dass für die Volksgruppe der Sudetendeutschen ein Jahre später die noch größere Katastrophe der Heimatvertreibung eintreffen sollte.
Diese wurde dann mit äußerster Konsequenz durchgeführt. Niemand konnte ausscheren oder um Aufschub bitten.
Karl Pöschl wurde mit seiner Frau und dem 6-jährigen Buben Adolf nach Falkenau und Eger verfrachtet. In seinem Gepäck befand sich auch die über 150 Jahre alte Egerländer-Weihnachtsgrippe, die heute noch alle Jahre aufgestellt wird. Sie kamen ins Sammellager Graslitz. Dort herrschte völlige Ungewissheit, ob es beispielsweise am nächsten Tag wieder etwas zu essen gäbe, oder was man überhaupt mit den Tausenden von Menschen vorhatte. Im allgemeinen Chaos war es eine gewisse Beruhigung, dass Verwandte beieinanderbleiben konnten. Viele hatten die Hoffnung, bald wieder in die Heimat zurückkehren zu dürfen. Andere sollte das Gefühl nicht täuschen, dass sie die Heimat nie wieder sehen würden.
Nach einer Woche ging es dann in Eisenbahnzügen für die Familie Pöschl weiter nach Regensburg. Dort fand an diesem Tag erstmals wieder der katholische Prangertag (Fronleichnam) statt. Der Zug fuhr weiter nach Straubing und Bogen. Hier wurden die Familien auf die Orte im Landkreis verteilt. Mitterfels erhielt damals die höchste Zuteilung an Vertriebenen, nach Einwohnern gerechnet. Die Schneidermeisterfamilie Pöschl kam noch am gleichen Tag nach Mitterfels und verbrachte die erste Nacht beim Baumgartner Veri.
Nun sei ein Beweis für den Fleiß und den Lebenswillen des Handwerksmeisters genannt. Eine Woche nach Ankunft in Mitterfels, die Familie war bei Toesko untergekommen, stellte er bei der Gemeinde Antrag auf Ausstellung eines Gewerbescheines für die Ausübung des Schneiderhandwerks: Seine erste Mitterfelser Wurzel.
Schon einen Monat nach der Vertreibung war Karl Pöschl im Besitz eines Gewerbescheins. Vergrößern durch Anklicken
Seine Handwerkskunst war in Mitterfels sehr geschätzt. Dann lernte er alsbald den Wagnermeister Klement Lang kennen, der ihn zum Kolpingsverein und zum Kirchenchor mitnahm. Er spielte in vielen Singspielen als Geiger mit und war in seiner Heimat und in Mitterfels im Ganzen 69 Jahre Chorsänger. In seiner Freizeit malte er auch leidenschaftlich gerne Bilder aus seiner Heimat und von Mitterfels. Sie werden uns den heute 90-Jährigen nicht vergessen lassen.
Man wohnte nach Toesko fünf Jahre im Zimmermannhaus, dann bei Stolz fünf Jahre und dann 13 Jahre im Benefitium-Haus. Erst 1968, also 22 Jahre nach der Vertreibung, konnten sie wieder in ein eigenes Haus einziehen.
Mit vielen Kindern von Flüchtlingen und Vertriebenen bin ich aufgewachsen, darum will ich hier ein paar Erinnerungen auffrischen.
Als die Familie Pöschl bei Stolz wohnte, waren die Verhältnisse kaum beschreibbar eng. Im Erdgeschoß hatten sie ein mit einem Schrank abgeteiltes Zimmer. Hier wurde geschneidert, gekocht, geschlafen. Auf der anderen Seite des Schrankes wohnte die Hausherrenfamilien, die auch nicht anders dran war.
In den Gärten bekamen die Vertriebenen von den Einheimischen Beete zum Anbau von Gemüse zur Verfügung gestellt. Ich habe damals zum ersten Mal Tomaten gesehen und gegessen, weil man die auf unserer Einöde nicht kannte. Bei den Landwirten erhielten sie für die Gegenleistung von Taglohnarbeit Bifange zum Anbau von Kartoffeln. Mein Vater hatte teilweise das halbe Kartoffelfeld vergeben. In den Wäldern war gewiss kein einziger dürrer Zäncken (Ast) zu finden, weil so fleißig Holz gesammelt wurde. Jeder Quadratmeter Wiese, jeder Acker wurde bis zum Rain genutzt. Alles Obst wurde verarbeitet.
Viele Arbeitstechniken brachten die Vertriebenen erst mit. Mir hat z. B. ein einheimischer Maurer den Umgang mit der Wasserwaage so erklärt: Um gerade zu kommen, musst du die „Blodern” sehen. Sein heimatvertriebener Kollege verbesserte ihn dann in der Weise, dass er sagte: die „Libelle” müsse schon genau in der Mitte der beiden Markierungen sein, weil sonst komme er zum Beispiel beim Bau eines Kirchturms in eine andere Pfarrgemeinde hinein, so schief würde er. Alle zwei haben das Zeitliche schon gesegnet; wird ihnen nicht schaden.
Ich möchte auch nicht meine eigenen Landsleute schlecht machen, weil ich doch stolz bin, dass man bei uns mit der großen Zahl von Vertriebenen und solchen, die fliehen mussten, so gut ausgekommen ist. Sie haben gegeben, wir haben gegeben, jeder wie er konnte. Vergelts Gott dafür!
Nach meinem Dafürhalten wäre es aber auch an der Zeit, nach 50 Jahren mit unseren slawischen Nachbarn echten Frieden zu schließen und ihre, für uns nicht immer leicht verständliche Lebenseinstellung zu akzeptieren.
Quelle: Mitterfelser Magazin 2/1996, Seite 30
Neueste Nachrichten
- 1000 Jahre Geschichte um Mitterfels (70)
- Mitterfelser Magazin 30/2024 - eine Publikation des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Weihnachtskonzert der Blaskapelle Mitterfels …
- Der Advent – eine Zeit für alle Sinne
- Arbeitskreis Heimatgeschichte Mitterfels erhält den Kulturpreis 2024
- Jubiläumsausgabe: Das 30. Mitterfelser Magazin ist ab 1. Dezember erhältlich
- Falkenfels. Puppentheater Karotte am vierten Advent
- Communio 2024 jetzt erschienen
- Nationalpark BW. Ab in den winterlich wilden Nationalpark!
- Vortrag über „Das Neue Schloss“ Steinach bei der Jahresversammlung des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Kirchenrenovierung Herrnfehlburg. Alles verlief nach Plan
- Renovierung von St. Thomas, Herrnfehlburg
- Waldleben ...
- Nationalpark BW. Winterprogramm steht in den Startlöchern
- Nationalpark BW. Forschungsprojekt zum Wisent geht weiter
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins ab MM 11
- MM 11/2005. Betriebe im Wandel
- MM 11/2005. Eine wirklich junge Straße mit einem Altersdurchschnitt der Bewohner von 28 Jahren
- MM 11/2005. Flurnamen erzählen vom Weidewesen früherer Zeiten
- MM 11/2005. Franz X. Baier machte 1952 aus der Burg Falkenfels eine Gastwirtschaft mit Fremdenzimmern
- MM 11/2005. Die schrecklichen Erlebnisse des Homberger Jakl aus Mitterwachsenberg
- MM 11/2005. Erzählungen
- Neues aus unseren Gemeinden
- Mitterfels. „Helfen statt Geschenke“
- Historischer Verein Falkenfels unter neuer Führung
Meist gelesen
- Unser "Bayerwald-Bockerl" erlebte seinen 100. Geburtstag nicht
- Vor 27 Jahren: Restaurierung der einstigen Kastensölde in Mitterfels abgeschlossen
- Markterhebung - 50 Jahre Markt Mitterfels
- Mühlen an der Menach (08): Wasserkraftnutzung in Kleinmenach und an den Nebenflüssen (in Groß- und Kleinwieden und Aign)
- Menschen aus unserem Raum, die Geschichte schrieben (1): Johann Kaspar Thürriegel
- Mühlen an der Menach (21): Die Höllmühl
- Begegnung mit Menschen (6). Drei Wandgemälde in der Volksschule Mitterfels von Willi Ulfig
- Dakemma, Bäxn, Moar ....
- Mühlen an der Menach (05): So wurde in Frommried (und auch in anderen Mühlen) aus Getreide Mehl
- Erinnerungen an einen "Bahnhof" besonderer Art: Haltepunkt Wiespoint
- Mühlen an der Menach (04): Frommried, eine der ältesten Mühlen
- Impressum
- Mühlen an der Menach (11): Die Mühle in Recksberg
- Das alte Dorf im Wandel
- Mühlen an der Menach (03): Ein Perlbach namens Menach
- Ortskernsanierung in Mitterfels (Stand 1995)
- Die Kettenreaktion
- Sparkasse Mitterfels - 10 Jahre älter als bisher bekannt
- Mühlen an der Menach (07): Die Hadermühl
- Das neue Mitterfelser Magazin 22/2016 . . .
- BWV-Sektion Mitterfels: Über 40 Jahre Lebens- freude (Stand: 2003)
- Datenschutzerklärung
- Publikationen AK Heimatgeschichte Mitterfels
- 2021: VG Mitterfels wurde 44
- Es begann in Kreuzkirchen
- Eine Bücherei entsteht
- Begegnung mit Menschen (1). Erinnerungen an Balbina Gall - Hebamme von Mitterfels
- Das ehemalige Benediktinerkloster Oberaltaich - seine Bedeutung für unseren Raum
- Mitterfels. Vorweihnachtliches Lesekonzert im Burgstüberl
- Wandern auf kurfürstlichen Spuren
- Schloss Falkenfels als Flüchtlingslager
- Mühlen an der Menach (01) - Vorstellung der Themenreihe
- Ergebnis der Bundestagswahl 2017 in der VG Mitterfels
- Der Forst, ein Ortsteil von Falkenfels
- Kirchengrabung in Haselbach mit Fund romanischer Wandziegelplatten im Jahre 1990
- Hausnummern - Spiegelbild für Dorf und Gemeinde
- Widder an den Thurmloch-Wassern
- Mühlen an der Menach (02): Wasserkraftnutzung an der Menach
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Jahreshauptversammlung 2017 mit Exkursion
- Sind wirklich die Falken die Namensgeber von Falkenfels?
- Mühlen an der Menach (19): Die Ziermühl
- Erinnerungen eines Landarztes
- Über den Mitterfelser Dorfbrunnen
- Qualifikation zur bayerischen Meisterschaft im Seifenkistenrennen 1950 in Mitterfels
- Sie waren Lehrbuben auf Schloss Falkenfels
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Das neue Mitterfelser Magazin 21/2015
- Mühlen an der Menach (25): Die "Wartnersäge" bei den Bachwiesen
- Zentrales Gemeindearchiv: Altes Kulturgut besser nutzen
- Zur Ortskernsanierung (1995): Begegnung mit Stuttgarter Studenten
- Neues Mitterfelser Magazin 19/2013 erschienen
Meist gelesen - Jahresliste
- Das neue Mitterfelser Magazin 22/2016 . . .
- BWV-Sektion Mitterfels: Über 40 Jahre Lebens- freude (Stand: 2003)
- Publikationen AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Mitterfels. Vorweihnachtliches Lesekonzert im Burgstüberl
- Der Forst, ein Ortsteil von Falkenfels
- Burgmuseumsverein Mitterfels. Objekt des Monats Oktober 2016 . . . und frühere Objekte
- History of Mitterfels
- Der Haselbacher Totentanz
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins 1/1995 bis 10/2004
- Bayerische Landesausstellung 2016 in Aldersbach. Bier in Bayern
- Kalenderblatt
- Mitterfels. Theaterspiel und Menü im Gasthaus „Zur Post“
- Landesausstellung "Bier in Bayern" in Alders- bach
- Club Cervisia Bogen. Bogen: Startschuss für D‘Artagnans Tochter und die drei Musketiere
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Führung Friedhof St. Peter in Straubing
- AK Heimatgeschichte Mitterfels. Exkursion zur KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
- Windberger Theater-Compagnie. „Lokalbahn“ - Rollen mit Herz und Seele gespielt
- Landkreis Straubing-Bogen. Hans Neueder gibt nach 25 Jahren sein Amt als Kreisheimatpfleger auf
- Jahresversammlung 2016 des AK Heimatgeschichte Mitterfels mit Exkursion nach Elisabethszell
- Schwarzach. KiS-Gründer Wolfgang Folger übergibt Amt des Vorsitzenden an Sascha Edenhofer
Meist gelesen - Monatsliste
- Neues aus unseren Gemeinden
- 1000 Jahre Geschichte um Mitterfels (70)
- Online-Beiträge des Mitterfelser Magazins ab MM 11
- MM 11/2005. Betriebe im Wandel
- MM 11/2005. Eine wirklich junge Straße mit einem Altersdurchschnitt der Bewohner von 28 Jahren
- MM 11/2005. Flurnamen erzählen vom Weidewesen früherer Zeiten
- MM 11/2005. Franz X. Baier machte 1952 aus der Burg Falkenfels eine Gastwirtschaft mit Fremdenzimmern
- MM 11/2005. Erzählungen
- MM 11/2005. Die schrecklichen Erlebnisse des Homberger Jakl aus Mitterwachsenberg
- Mitterfelser Magazin 30/2024 - eine Publikation des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Schwarzach. 33 Jahre KIS - Jahresprogramm
- Renovierung von St. Thomas, Herrnfehlburg
- Nationalpark BW. Die Borkenkäfer-Bilanz für 2024
- Vortrag über „Das Neue Schloss“ Steinach bei der Jahresversammlung des AK Heimatgeschichte Mitterfels
- Waldleben ...
- Mitterfels. Lesung von Herbert Becker in der Hien-Sölde
- Spende für die KLJB Mitterfels von Frauengruppe
- Haselbach/Mitterfels. Spende für drei Kindergärten
- Mitterfelser Magazin. Jubiläumsausgabe 2024
- Filmteam zu Gast in Mitterfels