„Schicksalstage im Herzen Ostbayerns“

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Helmut Erwert und Verlag Attenkofer präsentieren ihr neues Buch

Ende einer stabilen Zeitepoche? Ein niederbayerisches Regionalgeschichtsbuch mit dem Leitbegriff „Schicksalstage“ im historischen Umfeld einer denkmalswürdigen Bierhalle („Hubertushalle“)

Als sich eines Abends in der Stadt Straubing der Saal der geschichtsträchtigen Hubertushalle neben dem denkmalswürdigen Gebäudekomplex einer großen Brauerei mit Menschen füllte, war es keine Jagdgesellschaft, die hier Plätze reserviert hatte, auch kein vorwiegend männliches Publikum, das bei leidenschaftlichem Redeschwall ein Fest der Bierseligkeit erwartete, wiewohl der weite hohe Raum mit den schönen Balkenträgern ein altbewährter Versammlungsort war.

HE0 HubertushalleBild 1: Die weite und hohe historische Festhalle, in der in den letzten deutschen Zeitepochen schon viele Redeschlachten getobt hatten, war der angemessene Ort für die Erörterungen zu einem neuen Buch mit dem Titel „Schicksalstage“. Foto: Herbert Zankl

Hier hatten in der Tat politische Redeschlachten getobt - während der Kaiserzeit, in der Epoche der Weimarer Republik und in der NS-Zeit, doch jetzt, im Jahre 2019, ging es um kühle, aber brisante Erörterungen zur Krise unserer Zeitepoche - der angemessene Ort zu einem neuen Buch mit dem Titel „Schicksalstage im Herzen Ostbayerns“.

Die Veranstaltung

Einladend und lebensfroh begrüßten galante Melodien einer Gavotte von J. S. Bach die große Zuhörerschaft, gespielt von einem Streichquartett mit Gerold Huber sen. und Heike Fischer, Violine, Margit Schleinkofer, Viola, und Manfred Pferinger, Violoncello.

HE3 Schicksalstage wBild 2: Ein Streichquartett mit dem bekannten Musiker Gerold Huber sen. spielte zur Einleitung eine tänzerische barocke Gavotte. Foto: Herbert Zankl

Bevor Frau Bürgermeister Stelzl und stellvertretender Landrat Stierstorfer ihre Grußworte an die Versammelten richteten, hieß die Sprecherin des Attenkoferverlages im Namen der Verleger die Gäste willkommen, dankte den Instanzen der öffentlichen Hand, die die Herausgabe des Buches durch ein Geleitwort und auch finanziell gefördert hatten: dem Bezirkstag von Niederbayern mit seinem Präsidenten Dr. Olaf Heinrich, dem vormaligen Bezirkstagsvizepräsidenten Franz Schedlbauer, Erstem Bürgermeister der Stadt Bogen, dem Oberbürgermeister der Stadt Straubing, Markus Pannermayr, dem Landrat von Straubing-Bogen, Josef Laumer, sowie Herrn Dr. Thomas Späth, dem Vorsitzenden des Fördervereins für Kultur und Forschung Bogen-Oberalteich.

In geraffter Kürze schilderte die Verlagsvertreterin Sonja Ettengruber die jahrzehntelange historische Forschungsarbeit des Historikers und Verfassers des neuen Buches Helmut Erwert und gab einen Überblick über dessen zahlreiche regionalhistorische Publikationen, von denen die meisten im Straubinger Verlag „Cl. Attenkofer“ erschienen waren.

Erwerts grundlegendes Standardwerk der Geschichte der Region Straubing-Bogen zum Epochenwechsel 1945 war bereits 1997 auf dem Markt, nachdem zwei Jahre zuvor die US-amerikanischen Zentralarchive ihre historischen Dokumente für die Öffentlichkeit freigegeben hatten. Sie bereicherten die Quellenforschung und konnten im Buch mit dem Titel „Feuersturm, Zigarettenwährung und Demokratie“ zum ersten Mal ausgiebig zitiert werden.

Als herausragende Ehrungen des Autors nannte die Verlagsvertreterin die Verleihung der „Josef-Schlicht-Medaille“, der einzigen Kulturauszeichnung des Landkreises Straubing-Bogen, die „Ehrengabe des Donauschwäbischen Kulturpreises“, verliehen durch den Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, schließlich die Einladung des Bundespräsidenten zum Neujahrsempfang 2019 nach Berlin ins Schloss Bellevue.

Das folgende Allegro aus dem „Amerikanischen Quartett“ von Anton Dvorak – zupackend, energisch, dramatisch – war eine angemessene Einleitung in die Vorstellung der Anfangskapitel des Buches. Sie beinhalteten die gewaltsame Niederringung des ostbayerischen Landes durch die US-Streitkräfte im April 1945, schilderten die knappen Ressourcen an Wohnung, Kleidung und Nahrung, die die einheimische Zivilbevölkerung damals mit einer riesigen Anzahl von zugewanderten Evakuierten, Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und Flüchtlingen teilen mussten.

Aktualität der Ereignisse – Erinnerung und Mahnung

Diese Zustände – Lebensgefahren für Zivilisten, Versorgungsnot, Flucht und Migration – seien Parallelen zur aktuellen heutigen zivilen Not außerhalb Europas und zur daraus resultierenden Migrationsbewegungen – so der Autor.

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Bild 3: Der Autor Helmut Erwert beleuchtete in seinen Ausführungen die verschiedenen Aspekte seines Buches und stellte heraus, dass bei der heutigen Verunsicherung unseres Landes das festgehaltene Wissen im Buch „Schicksalstage“ eine ganz neue Bedeutung erlange. Foto: Claudia Karl-Fischer

Der Bann der Zerstörung sei damals durch das Ende des Krieges durchbrochen worden, Deutschland erhielt eine demokratische Verfassung, das Wirtschaftswunder erhöhte den Lebensstandard beträchtlich, sodass die heutigen Generationen auf eine erfolgreiche 70-jährige stabile, politisch und wirtschaftlich erfolgreiche Epoche zurückschauen können.

Angesichts neuer nationaler und internationaler Gefährdungen, von denen nicht wenige an die Zeit des letzten großen Umbruchs erinnerten, empfahl der Autor die Lektüre dieser Aufsätze, zumal die jungen Generationen kaum mehr wüssten, woher wir kommen, was uns gutgetan hat und was wir schützen müssten. Die historische Darstellung jener dramatischen Zeiten in dem Buch sei ein Angebot zum Nachdenken, zur Selbstanalyse, eine Argumentationshilfe zum Aufbau einer eigenständigen politischen Haltung in gefährdeten Zeiten. Wer unseren westlich-atlantisch geprägten heutigen Alltag in seinem Wesen verstehen will, so die Worte des Historikers, müsse in jene Zeit hinabtauchen. Von dort aus würde er die Selbstverständlichkeit unserer politischen und sozialen Lebensbedingungen mit anderen Augen sehen.

„Zukunft trifft Vergangenheit“

Die Schilderungen der Begründung und des Verlaufs der jetzt über 70 Jahre erfolgreichen Epoche münde in ein Kapitel, das Aufsätze über die Jetztzeit beinhalte. Sie stellten einen versöhnlichen Brückenschlag zur vergangenen Umbruchszeit und zu anderen Völkern dar, erläuterte der Verfasser.

In einem dieser Aufsätze durchforsche ein dänischer Regisseur die ostbayerische Regionalgeschichte, dreht einen Film über eine tragische Liebesgeschichte zwischen einer jungen Dänin und einem deutschen Offizier in der niederbayerischen Donauregion der Nachkriegszeit. Die junge Frau – so seine Recherchen - landete im Straubinger Zuchthaus, gebar eine Tochter, die jedoch nicht von dem Deutschen, sondern von einem US-Besatzungsoffizier stammte.

In einem anderen Text empfange der serbisch-orthodoxer Bischof von Novi Sad eine Delegation deutscher Vertriebener mit niederbayerischen Teilnehmern. Der hohe Geistliche betet mit ihnen an den Massengräbern ihrer in der Titozeit umgekommenen Verwandten. Im nächsten Artikel fährt eine nostalgische Reisegruppe durch Temeschwar im rumänischen Banat, kommt dort am deutschen Gymnasium der Stadt vorbei, das die Schriftstellerin Herta Müller als Schülerin besucht hatte. Tags darauf erfahren die überraschten Reisenden, dass diese ehemalige Schülerin den Literaturnobelpreis erhalten hatte.

Der heute in Niederbayern lebende Autor berichtete weiterhin von einer Erzählung in seinem Buch, in der er seiner Geburtsstadt Weißkirchen im Banat, heute Bela Crkva, einen Besuch abstattete. Auf eine Einladung hin hielt er eine Lesung aus seinem Roman „Elli oder Die versprengte Zeit“ in deutscher Sprache, die dort lange Zeit verboten war.

An anderer Stelle dokumentiere ein Text die Einladung und die Rede eines aus dem Landkreis Straubing-Bogen stammenden Veteranen, der als Vertreter der ehemaligen deutschen Kriegspartei bei einer Gedenkfeier in der Normandie beherzigende Worte zu Frieden und Versöhnung gesprochen hatte. Diese gelangten in die Weltpresse, hätten berührende Rückmeldungen von ausländischen Absendern ausgelöst. Einen ausführlichen Bericht habe er als Verfasser außerdem über eine nachkriegszeitliche deutsch-amerikanische Versöhnungsfeier am Ort des Absturzes eines viermotorigen US-Bombers im Bayerischen Wald in dieses Kapitel aufgenommen. Jahrzehnte nach diesem Flugzeugunfall bezeugten die Nachkommen der Bordbesatzung ihren Dank dafür, dass die niederbayerische Seite ein Denkmal für die hier zu Tode gekommenen US-Soldaten errichtet hatten.

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Bild 4: Deutsch-amerikanische Versöhnungsfeier im Bayerischen Wald anlässlich der Errichtung eines Denkmals für die 1945 bei einem Absturz zu Tode gekommenen US-Flieger. Foto: Herbert Zankl

Musikalischer Abschluss

Bevor zum Schluss der Veranstaltung das Quartett „Variationen aus dem Kaiser-Quartett“ von Josef Haydn spielte, dankte die Verlagssprecherin den Zuhörern für ihr Interesse, den Akteuren des Abends für ihre Beiträge. Danach zitierte sie den Autor, der sich diese bestimmte Schlussmelodie gewünscht hatte, mit folgenden Worten: Wenn als letztes Musikstück nun eine Melodie erklingt, die Ihnen vertraut ist, so ist es nicht eigentlich die aktuelle deutsche Nationalhymne, sondern eine Melodie aus dem 18. Jahrhundert, als das vereinte Deutschland als Nation noch gar nicht existierte. Den Text dazu hat Hoffmann von Fallersleben geschrieben, nach den Befreiungskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts - in der Sehnsucht nach einem endlich geeinten Vaterland, das lange auf sich warten ließ.  

Die Kombination von Musik und Text wurde erst in der Weimarer Republik zur offiziellen deutschen Nationalhymne. Die Diktatur der Nationalsozialisten behielt die Melodie und die erste Strophe von Hoffmannsthal bei, fügte danach das Horst-Wessellied hinzu. Heute ist Haydens Melodie mit der dritten Text-Strophe die offizielle Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland. 

Diese Melodie birgt das geballte Schicksal der deutschen Nationalgeschichte in sich, daher schien sie mir für die Präsentation eines Buches mit dem Leitwort „Schicksalstage“ ein geeigneter Schluss der Veranstaltung zu sein. Herzlichen Dank für Ihr Interesse!

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Bild 5: Pressefoto mit den Akteuren des Abends und der mit einem Blumenbouquet beschenkten Ehefrau des Autors. Foto: Herbert Zankl

 


Wolfgang Engel/BOG Zeitung:

"Schicksalstage im Herzen Ostbayern" - Helmut Erwert und Verlag Attenkofer präsentieren ihr neues Buch

In seinem Buch zeigt Helmut Erwert, wie unsere Zeit geworden ist, wie sie ist. Helmut Erwert steht vorn am Rednerpult in dieser wunderbaren Hubertushalle, und schnell wird klar, warum er sich genau diesen Ort gewünscht hat für die Präsentation seines neuen Buches. Erwert, 86, pensionierter Gymnasiallehrer, Historiker und der wohl beste Kenner der jüngeren Geschichte dieser Region, weiß, dass diese Halle weit mehr ist als der wunderschöne, repräsentative und akustisch hervorragende Ort, der er auch ist.

Diese Halle, die als Bierhalle auf dem Volksfest begann und um 1900 versetzt wurde, repräsentiert auch Geschichte. „Hier, diese Halle“, sagt Erwert, „hat Geschichte erlebt. Hier hat der erste republikanische Ministerpräsident gesprochen, gegen diese Balken schlugen die Worte der NS-Repräsentanten, hier sprachen demokratische Politiker in der Nachkriegszeit.“ Diese Epoche, von der Zwischenkriegszeit bis zur Gegenwart, ist Erwerts Lebensthema.

„Schicksalstage im Herzen Ostbayerns“ heißt sein neuestes und größtes Buch, 432 Seiten, weit über 150 Bilder, „ein Lese- und Bilderbuch“ nennt es Erwert. Es ist die Bilanz einer ganzen Generation. Erwert ist aufgewachsen im Banat, einer Region im Grenzgebiet Serbien/Rumänien, deren Namen heute wohl nicht mehr viele kennen. Er hat Krieg, Verlust der Heimat und Not erlebt, aus dieser Erfahrung blickt er auf die Welt: ein hochgebildeter Mann, alte Schule, mit einem Wissen in einer Tiefe, wie man es heute nicht mehr oft findet.

Erwerts Bücher stehen auch in amerikanischen Bibliotheken als anerkannte historische Zeitdokumente. Zum Abschluss des Abends hat er sich Variationen aus Haydns Kaiser-Quartett gewünscht, der Ursprungsmelodie der heutigen Nationalhymne. Sonja Ettengruber, die den Abend moderiert, trägt dazu einen Text Erwerts vor. Hoffmann von Fallersleben wird erwähnt, dessen „Lied der Deutschen“ verbunden ist mit dieser Melodie, ebenso die Befreiungskriege, die für Hoffmann prägend waren, und auch die erste und die dritte Strophe dieses Textes, die eine wird nicht mehr gesungen, die andere ist der Text der Hymne.

HE3 Schicksalstage wMenschen wie Helmut Erwert wissen, dass eine Strophe später missbraucht worden ist und sie in Wahrheit aus demselben Geist heraus geschrieben ist wie die andere. „Helmut Erwert“, so formuliert es Sonja Ettengruber, „hat sich diese Melodie gewünscht, weil sie die gesamte deutsche Nationalgeschichte in sich trägt.“

Musikalische Gestaltung (v. l.): Heike Fischer – Violine | Gerold Huber – Violine | Margit Schleinkofer – Viola | Manfred Pferinger – Violoncello

 

Heimatgeschichte bis in die Gegenwart

In seinem Buch will Erwert zeigen, wie unsere Zeit geworden ist, wie sie ist. Er zeigt es als Heimatgeschichte, und es geht weit über die Nachkriegszeit hinaus bis ins Heute, in den veränderten Gäuboden, den wachsenden TUM-Campus Straubing, den Ausstieg Chinas und die Zuwanderung, die Erwert „anfangs unkontrolliert“ nennt. „Der Spiegel hat einmal geschrieben: Die alte Weltordnung ist Geschichte“, sagt Erwert, „und ein weit verbreitetes Buch konstatiert lapidar: Deutschland schafft sich ab.“

Erwert will da Orientierung bieten; dazu muss man die Geschichte, auch die der Heimat, kennen, ist Erwerts Überzeugung. Helmut Erwert forscht nach den großen Zusammenhängen, nach einem Weg „zwischen politischer Naivität und nationaler Selbstüberschätzung“. Ist die Bindung an die Heimat noch ein Wert oder Auslaufmodell, fragt Erwert, für den Niederbayern so sehr Heimat geworden ist, dass er sie erforscht wie kaum ein anderer, und der trotzdem immer auch seine Ursprungsheimat, Weißkirchen im Banat, im Blick hat.

HE4 Schicksalstage w„Schicksalstage im Herzen Ostbayerns“ ist das Werk eines gebildeten, kundigen Mannes. Die Hubertushalle war gut gefüllt, Bürgermeisterin Maria Stelzl war da und würdigte Erwert wie auch der stellvertretende Landrat Franz Xaver Stierstorfer, der Andrang am Signiertisch war groß. Den Haydn spielte Gerold Huber mit einem Quartett, das Sonja Ettengruber auf den Namen „Spitzweg-Quartett“ taufte: „Es ist eine wunderbare Akustik in dieser Halle. Da wünscht man sich, mehr zu hören.“ 

Bürgermeisterin Maria Stelzl (v. l.), Sonja Ettengruber, der Autor Helmut Erwert mit seiner Gattin, stellvertretender Landrat F. X. Stierstorfer

we/Straubinger Tagblatt vom 12. Oktober 2019 (mit Genehmigung der Stadtredaktion)

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