Mitterfels
Der Zorn einer Seniorin – Pflegenotstand im Landkreis Straubing-Bogen
„Ich muss betteln, damit mich jemand duscht“: Eine 83-Jährige über Pflegenotstand
Straubing-Bogen. Schon ein paar Monate ist es her, dass der ambulante Pflegedienst des BRK Straubing-Bogen die Verträge mit seinen Patienten wegen personalbedingter Umstrukturierungen gekündigt hat. Für viele war es schwierig, einen neuen Pflegedienst zu finden oder sie müssen sich mit weniger Einsätzen der neuen Pflegedienste zufriedengeben, weil die eben auch Personalmangel haben. So ergeht es auch einer 83-Jährigen aus der Gemeinde Mitterfels, die anonym bleiben will.
Im Frühjahr 2021 hatte sich die Frau beide Handgelenke gebrochen. „Ein komplizierter Splitterbruch, der im Krankenhaus gut operiert worden ist, trotzdem bin ich seitdem darauf angewiesen, von einem Pflegedienst geduscht zu werden“, sagt sie. Nachdem sie die ersten Wochen nach der Operation in der Familie ihres Sohnes, der in der Nähe von München lebt, gepflegt worden war, kehrte sie in ihr Haus nach Mitterfels zurück. Zuerst schien alles gut: Der Pflegedienst des BRK Straubing-Bogen kam zweimal wöchentlich zum Duschen. „Das lief alles rund, die Pflegerinnen waren sehr zuverlässig und freundlich.“ Dann kam der Schock, erinnert sich die Frau. „Das BRK Straubing kündigte den Pflegedienst zum 31. August 2022 und stellte ihn abrupt schon am 1. Mai 2022 ein.“
Ein Wiesenfeldener Pflegedienst übernahm, „sporadisch und unregelmäßig“. Denn der Wunsch der Seniorin war und ist es, ausschließlich von Frauen geduscht zu werden. Beim Wiesenfeldener Pflegedienst waren viele männliche Pfleger angestellt. Nach drei Monaten machte auch dieser Pflegedienst dicht und verwies auf einen Pflegedienst in Michelsneukirchen im Landkreis Cham, der aber gar nicht nach Mitterfels fährt. Nach vielen vergeblichen Versuchen und der Hilfe der Mitterfelser Marktgemeinderätin Sandra Groth kam die Seniorin schließlich bei einem Pflegedienst in Windberg unter. „Der kann mich aber nur einmal wöchentlich duschen. Wenn ein männlicher Pfleger in die Runde eingeteilt ist oder die Pflegerin im Urlaub ist, kommt er gar nicht.“
„Ich möchte in meinem Haus bleiben dürfen“
Die Frau ist gut in Mitterfels integriert. „Viele Nachbarn unterstützen mich ehrenamtlich, eine Frau geht für mich zum Einkaufen, eine andere kocht für mich mit“, erzählt sie. Kurze Strecken wie die Fahrt zur Physiotherapie legt sie noch selbst im Auto zurück. Außerdem hat sie eine Haushaltshilfe und jemanden, der sich um den Garten kümmert. Darüber hinaus ist sie an den Hausnotruf des BRK angeschlossen. Sich ihre Selbstständigkeit zu erhalten, ist ihr wichtig. „Ich möchte in meiner sozialen Umgebung bleiben und nicht in ein Seniorenheim müssen“, sagt sie.
Nach der Kündigung des BRK habe sie sich auch schon überlegt, ganz auf einen mobilen Pflegedienst zu verzichten und sich von ihrer Haushaltshilfe duschen zu lassen. „Aber versicherungstechnisch ist das eine Grauzone. Was ist, wenn ich ausrutsche und mir etwas breche?“ Die 83-Jährige hat selbst ihre Mutter gepflegt, die dement war. „Vor 30 Jahren war es aber noch leichter, die Unterstützung von mobilen Pflegediensten zu bekommen“, sagt sie.
Derzeit ist es ihren Erfahrungen nach wie im ganzen nördlichen Landkreis Straubing-Bogen auch in Mitterfels schwierig, einen Pflegedienst zu finden. „Und das obwohl Mitterfels als Mittelzentrum eine entsprechende Infrastruktur besitzt.“ Ihr Vorschlag wäre, einen ambulanten Pflegestützpunkt in Mitterfels einzurichten. „Da könnte der nördliche Landkreis mit kurzen Fahrstrecken kostengünstig bedient werden.“
Immer wieder habe sie Menschen in der Pflege erlebt, die sagen: „Ich liebe meinen Beruf.“ Vielen machten aber die Begleitumstände zu schaffen, zum Beispiel der ständige Zeitdruck. Weil immer mehr Altenheime aus Personalmangel ganze Stationen schließen, werde die ambulante Pflege in Zukunft noch stärker nachgefragt werden. Diese Nachfrage nach Pflegekräften könne man nur dadurch abdecken, wenn man die Ausbildung erleichtere. „Nicht für jeden zu Pflegenden braucht ein Pfleger eine dreijährige Ausbildung.“ Um Menschen zu waschen und zu duschen, reiche ihrer Meinung nach ein zweimonatiger Kurs.
Zu bürokratisch werde da oft gedacht. Das Beispiel des Altenheims Wiesenfelden, das kurz vor der Schließung gestanden ist, hat gezeigt, dass Lösungen möglich sind, wenn pragmatisch und lösungsorientiert gedacht werde.
Seit Generationen sei die Pflege alter und hilfsbedürftiger Menschen die Aufgabe der nachkommenden Generation. „Wenn Kinder oder andere Verwandte es selbst nicht machen können, müssen sie dafür Sorge tragen, dass es Menschen gibt, die diese Pflege leisten.“
Mittlerweile hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihren Ärger laut und deutlich kundzutun. „Wenn man so fordernd auftritt, wird man schnell schief angeschaut. Das mögen die Leute nicht“, sagt sie. Deshalb möchte sie ihren Namen auch nicht in der Zeitung lesen, sondern anonym bleiben.
„Wir sollen unseren Mund halten und kräftig zahlen“
„Oft habe ich das Gefühl, dass viele Menschen denken, wir alten Menschen sollen einfach unseren Mund halten und kräftig zahlen. Wir sind nur noch als Geldquelle interessant.“ Denn Pflege sei schließlich nicht billig. „Mir als Privatpatientin werden rund 50 Euro für eine halbe Stunde Duschen verrechnet, von einem Nachbarn weiß ich, dass er 4500 Euro für einen Platz im Seniorenheim zahlt. Das ist doch viel Geld.“ Sie habe keine Ahnung, wo das Geld lande. „Aber bestimmt nicht bei den Pflegern.“
Als lästige Bittstellerin fühle sie sich oft. „Dabei habe ich das ganze Leben lang gearbeitet.“
Ihre Generation habe nach dem Zweiten Weltkrieg durch harte Arbeit und unter großen Entbehrungen eine gute finanzielle Grundlage für die nachfolgenden Generationen geschaffen. „Und jetzt muss ich betteln, damit ich zumindest einmal in der Woche geduscht werde.“
KOMMENTAR
Spielräume nutzen
So viel Ehrlichkeit ist unsere Gesellschaft, die sich allenthalben mit Großartig- und Wunderschön-Bekundungen am Laufen hält, gar nicht mehr gewöhnt. Die 83-jährige Seniorin nimmt kein Blatt (mehr) vor den Mund. Sätze wie „Wir sollen unseren Mund halten und nur bezahlen“ oder „Ich muss betteln, damit ich einmal in der Woche geduscht werde“ wirken bestürzend.
Genauso engagiert, wie die 83-Jährige ihren Unmut über die Pflege in Worte fasst, organisiert sie auch ihren Alltag: Sie hat eine Haushaltshilfe, jemanden, der sich um den Garten kümmert, ist an einen Hausnotruf angeschlossen und hat um sich ein soziales Netz von Menschen gespannt, die sie tatkräftig unterstützen. Sie strengt sich an, um eigenständig in ihrem Haus leben zu können. Und stößt doch an ihre Grenzen, weil es für Senioren vor allem im ländlichen Raum immer schwieriger wird, mobile Pflegedienste zu finden.
So tatkräftig, wie die Frau ihre Eigenständigkeit verteidigt, sollten auch Kommunen ihren Teil dazu beitragen, damit im Landkreis Straubing-Bogen pflegebedürftige Menschen gut versorgt werden. Und auch über unkonventionelle Lösungen nachdenken: Beispielsweise Räume für Pflegestützpunkte zur Verfügung stellen, Fahrtkostenzuschüsse für Pflegedienste übernehmen, die sich trotz hoher Spritkosten ihrer Verantwortung stellen, und sich um Patienten in abgelegenen Ortschaften kümmern. Nicht zuletzt ist der Freistaat Bayern gefragt, der sich im Landesentwicklungsplan die Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in Stadt und Land auf die Fahne geschrieben hat.
Klar ist auch: Die Arbeitskräfte, die den ambulanten Diensten fehlen, können weder Kommunen noch Freistaat herzaubern. Eine schnelle Lösung, um dem Pflegenotstand, der schon seit 30 Jahren auf der politischen Agenda ganz oben steht, doch nie wirklich angepackt wird, ein Ende zu setzen, wird es nicht geben. Umso wichtiger ist es, die kleinen Spielräume zu nutzen, damit Menschen wie die 83-Jährige so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden bleiben können.
Alexandra Beck/BOG Zeitung vom 19. November 2022
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