Deutsche Geschichte
Die zweite Rückkehr eines Kriegsgefangenen
1947 im Gefangenenlager Colmar vor der Entlassung - Franz Bernkopf (erste Reihe, Mitte), ganz rechts der Kommandoführer Avus, der „Lebensretter"
Franz Bernkopf trifft in Colmar seinen Lebensretter – Vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg
Weltweit ist Anfang August des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren gedacht worden. Auch das Straubinger Tagblatt und die Bogener Zeitung erinnern derzeit mit einer Reihe an diesen Krieg, der vielen als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt. Am heutigen 1. September jährt sich allerdings auch der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Vor 75 Jahren, also nur 25 Jahre nach dem verheerenden „Großen Krieg", nahm schon das nächste Massensterben seinen Lauf. Als am 3. August 2014 der französische Präsident François Hollande und Bundespräsident Joachim Gauck gemeinsam gedenkend am Hartmannsweilerkopf, dem „Berg des Todes" in den Vogesen standen, erinnerte sich Alois Bernkopf daran, dass der Ort auch im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielte – zumindest für seinen Vater Franz Bernkopf, der in dieser Gegend bis 1947 in Kriegsgefangenschaft war. Vor 45 Jahren reiste der Vater dorthin zurück und traf dabei auf seinen französischen Lebensretter.
Im August 1947 wurde mein Vater Franz Bernkopf, der 1997 verstorben ist, aus französischer Kriegsgefangenschaft in Colmar entlassen. Er konnte allerdings nicht in seine Heimat im Riesengebirge zurückkehren, sondern fand seine Familie als vertriebene Sudetendeutsche auf einem Bauerhof in Gschwendt, Gemeinde Ascha, wo sie nach einem Aufenthalt im Flüchtlingslager Muckenwinkling eine Unterkunft gefunden hatten. Ihre Adresse hatte er durch einen glücklichen Zufall erfahren. An einem heißen Augusttag stand plötzlich ein Mann in abgerissener Wehrmachtsuniform vor dem Hoftor. Instinktiv spürte ich: Das ist mein Vater! Drei Jahre, seit meinem sechsten Lebensjahr, hatte ich ihn nicht mehr gesehen.
Nachdem sich mein Vater nach einigen Wochen an das Leben in Freiheit gewohnt hatte, erzählte er manchmal aus der Zeit der Gefangenschaft in Frankreich. Für ein Kind mit neun Jahren hörten sich Vaters Erzählungen wie Geschichten aus einer anderen Welt an. Und es war ja auch eine andere Welt – die Welt der Gefangenschaft mit ihrem unsäglichen Leid, Hunger und Elend, die ein Kind nicht fassen konnte.
Zuerst kam der Brief für den Lebensretter nicht an
Erst 22 Jahre später, 1969 wurden Colmar und die Umgebung für mich zur erlebten Gegenwart. Zufällig hatte mein Vater in alten Aufzeichnungen die Anschrift seines damaligen Kommandoführers im Gefangenenlager Colmar gefunden. Er schrieb ihm einen Brief und dankte ihm, dass er den Kriegsgefangenen, Franz Bernkopf, vor dem Hungertod gerettet hatte.
Bei einem Morgenappell hatte Kommandoführer Arrus gefragt, wer mit der Sense Gras mähen könne. Vater meldete sich als Erster. Arrus nahm den Gefangenen Franz Bernkopf mit zu sich nach Hause und beschäftigte ihn für einige Zeit. Er musste einen Bahndamm mähen und Holz hacken und wurde dort auch verpflegt. Das war seine Rettung, denn viele seiner Kameraden waren im Lager bereits an Unterernährung gestorben. Obwohl er sich noch in Kriegsgefangenschaft befand, durfte er sich frei bewegen. Für all das sei er ihm heute noch dankbar, so Franz Bernkopf in seinem Brief. Da die Anschrift nicht vollständig war, kam der Brief zunächst nicht an. Deshalb sandte Vater im März 1969 ein Schreiben an den Oberbürgermeister der Stadt Colmar und legte den ersten Brief bei.
Der Oberbürgermeister von Colmar half schnell
Er bat den Oberbürgermeister, nach dem Verbleib des Herrn Arrus zu forschen und fragte, ob der Bildhauer Antonie noch am Leben sei, der mithilfe der Gefangenen das Denkmal am Hartmannsweilerkopf geschaffen habe. „... Ich bitte Sie höflich, im Sinne der Völkerversöhnung nach dem Verbleib dieser lieben Menschen zu forschen und mir eine Mitteilung zu senden. Ich würde mich freuen, wenn sich die verehrte Stadtverwaltung diese Mühe machen würde..." Und die Stadtverwaltung machte sich die Mühe! Nur zehn Tage später erhielt Franz Bernkopf ein Antwortschreiben aus Colmar. In ihm stand die genaue Anschrift des ehemaligen Kommandoführers Louis Arrus, aber auch, dass der Bildhauer Antonie bereits gestorben sei.
„Da ich selber weiß, was Kriegsgefangenschaft ist, hat es mich sehr gefreut, zu wissen, dass es trotz Krieg und Hass noch Leute gibt, welche das Lebensrecht eines jeden Mitmenschen respektieren", fügte der Bürgermeister J. Rey seiner Antwort an.
Im August 1969 machte ich mich zusammen mit meinem Vater auf die Reise in seine Vergangenheit. Über die Rheinbrücke bei Kehl passierten wir mit dem Zug ohne Probleme die französische Grenze. Den kurzen Aufenthalt in Straßburg nutzten wir zum Besuch des weltberühmten Straßburger Münsters. Bis Colmar waren es nur noch etwa 70 Kilometer. Bald tauchten am Horizont die runden Kuppen der Vogesen auf. Nach der Ankunft am Bahnhof in Colmar fragten wir nach dem „Hotel de Ville". Es stellte sich heraus, dass es das Rathaus war. Als wir der Sekretärin das Schreiben des Bürgermeisters zeigten, wurden wir sofort vorgelassen. Ich muss gestehen, es berührte mich stark, als sich der Oberbürgermeister einer französischen Stadt und der ehemalige deutsche Kriegsgefangene herzlich begrüßten. Der Bürgermeister war ein honoriger älterer Herr, etwa so alt wie mein Vater. Als gebürtiger Elsässer sprach er natürlich deutsch, so war die Unterhaltung kein Problem.
Dann öffnete sich plötzlich die Tür ...
Plötzlich öffnete sich Tür und zur größten Überraschung meines Vaters betrat Louis Arrus den Raum. Der Bürgermeister hatte ihn in der Zwischenzeit rufen lassen. Nun hatte Vater das Ziel der Reise erreicht: Er konnte seinem „Lebensretter" danken, der ihn vor dem Hungertod bewahrt hatte.
Franz Bernkopf überreicht seinem „Lebensretter" einen Bierkrug mit dem Bogener Wappen.
Der Bürgermeister hatte uns ein Zimmer im Hotel „Majestic" reservieren lassen. In Erinnerung an die zweijährigen Leiden in der Kriegsgefangenschaft schüttelte mein Vater den Kopf und meinte: „Wer hätte das gedacht, dass der ehemalige Kriegsgefangene Franz Bernkopf in Colmar einmal in einem Hotel übernachten würde..."
Von der „Rapp-Kaserne", dem ehemaligen Gefangenenlager war nichts mehr vorhanden. Ich glaube, Vater war froh darüber. Doch nahe der „Champs de Mars" fanden wir ein Denkmal des Generals Rapp, der aus Colmar stammte und unter Napoleon ein berühmter General war. Auf dem Sockel waren geschichtsträchtige Schlachtorte der napoleonischen Kriege zu lesen: Mrengo, Austerlitz, Danzig ... Alt-Colmar mit seinen alemannischen Fachwerkhäusern gefiel uns besser. Das Viertel, die „Krütenau" (Krautgarten), wird durch seine schöne Lage am Fluss Lauch auch als „Klein-Venedig" bezeichnet. Natürlich besuchten wir auch das „Unterlinden-Museum", denn hier befindet sich der berühmte Isenheimer Altar von Mathias Grünewald.
Ergreifende Fahrt zum Hartmannsweilerkopf
Das Denkmal am Hartmannsweilerkopf, an dem Franz Bernkopf als Kriegsgefangener mitgewirkt hat.
Einen Tag hatten wir für eine Vogesenrundfahrt vorgesehen. Vor allem wollte mein Vater das Denkmal am Hartmannweilerkopf, an dem er als Kriegsgefangener mitgearbeitet hatte, besuchen. Mit dem Bus fuhren wir durch das reizvolle Münstertal in vielen Serpentinen hinauf zum Kamm der Vogesen. Die Kammstraße vom Hohneck bis zum Großen Belchen (Grand Ballon, 1424 m) ähnelt der Schwarzwaldhochstraße auf der östlichen Seite des Rheins. Die Landschaft mit den steilen Abbrüchen nach Osten und den Bergkuppen mit der kargen Vegetation hat starke Ähnlichkeit mit dem Riesengebirge. Bald erreichten wir das zweite Ziel für die „Reise in die Vergangenheit", den Hartmannsweilerkopf.
Der Hartmannsweilerkopf ist mit seinen 920 Metern ein markanter Punkt in den Südvogesen, die hier steil in die Rheinebene bei Mühlhausen abfallen. Er war im Ersten Weltkrieg einer der am schwersten umkämpften Punkte an der Westfront. Hier hat der grausame, langjährige Stellungskrieg unverhältnismäßig viele Opfer gefordert. Offizielle Angaben nennen 60 000 französische und deutsche Soldaten, die hier für ihr jeweiliges Vaterland ihr Leben lassen mussten. Noch heute erinnern Eisenteile, Betonreste, Schießscharten an verfallenen Bunkern und Laufgräben an die Kampfhandlungen.
Vater arbeitete an der Soldatenskulptur mit
Unmittelbar wurde ich an das berühmte Antikriegsbuch von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues" erinnert. Das monumentale Bronzedenkmal mit den fünf martialisch dargestellten Soldaten machen für die heutigen Generationen den Wahnsinn des Krieges sichtbar. Allenfalls der weit geöffnete Mund und die zum Himmel ausgesteckte Hand des rechten Soldaten lassen das Leid und die Sinnlosigkeit des Geschehens erahnen. Mein Vater musste als Kriegsgefangener einige Zeit am Gipsmodell für dieses Denkmal mitarbeiten.
Einen versöhnlicheren Eindruck hinterlassen die gut gepflegten Soldatenfriedhöfe in der Nähe, am Silberloch. Hier ruhen Freund und Feind friedlich nebeneinander. Besonders die Krypta wird alljährlich von vielen französischen und ausländischen Touristen besucht. Wie vor Kurzem der Presse zu entnehmen war, entsteht zurzeit am Hartmannsweilerkopf für 3,5 Millionen Euro das erste deutsch-französische Museum des Ersten Weltkriegs, das die Initiatoren ein „Leuchtturmprojekt" der deutsch-französischen Freundschaft nennen.
Ein vorzüglich gepflegter Soldatenfriedhof am Hartmannsweilerkopf mit Blick in die Rheinebene. Hier mussten 60.000 deutsche und französische Soldaten im Ersten Weltkrieg ihr junges Leben lassen.
Die Überreste und Erinnerungen an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs gehören zu den erschütterndsten Eindrücken einer Reise durch das in der Vergangenheit viel umkämpfte Elsass. In entsprechender Gemütsverfassung bestiegen wir den Bus und fuhren durch die Rheinebene zurück nach Colmar.
Verrostete Eisenteile, Betonreste, Schützengräben und Schießscharten erinnern heute noch an den grausamen Stellungskrieg vor 100 Jahren.
Es war eine Reise in die deutsch-französische Vergangenheit. Aber durch den Versöhnungsgedanken – deutscher Kriegsgefangener besucht französischen Wohltäter – war es auch eine Reise in die Zukunft Europas!
Quelle: Alois Bernkopf, in: Bogener Zeitung vom 1. September 2014
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