Volkstrauertag 2019. Ansprache von Oberst a. D. Henner Wehn

Volkstrauertag2019

Es war ein wunderschöner sonniger Herbsttag im KOSOVO in einem ebenso wunderschönen Gebirgstal im Jahre 2000. Um mich herum Hunderte festlich in Tracht gekleidete Albaner. Unsere Pioniere hatten die im Krieg ein Jahr zuvor völlig zerstörte Schule dieses Gebirgstales wiederaufgebaut. Sie sollte heute feierlich an die Albaner übergeben werden.

Als stellvertretender Brigadekommandeur einer großen multinationalen Brigade, zu der auch Türken, Österreicher, Bulgaren und Russen gehörten, nahm ich als Ehrengast an dieser Feierstunde teil. Begeisterte Kinder und Jugendliche sangen und tanzten zu fröhlichen Klängen auf der Holzbühne. Als ich im Rhythmus der flotten Musik, wie alle anderen um mich herum, mitklatschen wollte, hielt mich der hinter mir sitzende Sicherheits-Dolmetscher zurück.

Er war Soldat der Bundewehr, albanischer Abstammung und mit einem falschen Namensschild versehen, und kontrollierte, ob die zivilen Dolmetscher der Albaner die Gespräche wahrheitsgemäß übersetzten. Er beugte sich zu mir vor und flüsterte mir leise ins Ohr: „Herr Oberst, bitte nicht mitklatschen. Die Kinder singen gerade: Wir werden die Serben besiegen. Ihr Blut soll die Berge herabfließen und die Flüsse rot färben!“

Meine festliche Stimmung erstarb in Sekunden. Noch vor knapp einem Jahr wurden diese Albaner von den Serben verfolgt und gequält und jetzt wurde in die Köpfe dieser Kinder neuer Hass gepflanzt. Dieser Hass saß aber nicht nur in den Köpfen der Männer, wie man nach den vorangegangenen Kämpfen vermuten könnte! Deutlich bewusst wurde mir das nach einem Gespräch mit einer albanischen Mutter einige Tage zuvor. Auch ihr Haus war im Krieg zerstört worden. Unsere Pioniere hatten es wiederaufgebaut. Bei der Übergabe kam ich mit ihr mit Hilfe einer Dolmetscherin ins Gespräch. Sie hatte drei Söhne. Ihr Mann war in den Kämpfen gefallen. Auch ein Sohn war im Krieg mit den Serben getötet worden. Ein zweiter Sohn kam schwerverwundet nach Hause und war arbeitsunfähig. Der dritte Sohn war nach Deutschland geflüchtet. Diese Mutter schwärmte von den ersten beiden Söhnen in den höchsten Tönen als „Helden“, die für ihr Vaterland gekämpft hätten, während sie den nach Deutschland geflüchteten Sohn als „Feigling“ bezeichnete, den sie verachte. Von seinem aus Deutschland geschickten Geld lebte die Familie!

Diese beiden Erlebnisse machten mir wieder einmal schlagartig klar, welcher Hass in den Köpfen dieser Menschen verankert war. Wir Soldaten konnten verhindern, dass Serben und Albaner weiterhin mit Waffen aufeinander losgingen, aber Frieden schaffen konnten wir nicht!

Soldaten können nie Frieden schaffen!

Auch heute - 19 Jahre später - herrscht dort noch kein echter Friede. Die Kinder von der damaligen Schuleinweihung mögen heute Mitte zwanzig sein. Ob in ihren Köpfen immer noch der Hass auf die Serben sitzt?

Dieser Hass in den Köpfen der Menschen ist eine der Hauptursachen für Gewalt und Kriege. Aber haben die gefallenen Soldaten, derer wir heute wieder gedenken, ihre Feinde von damals  auch gehasst? Die allermeisten sicher nicht! Sie waren in Treu und Glauben überzeugt ihre vaterländische Pflicht zu erfüllen. Sie wollten den Krieg nicht und sie hassten auch nicht ihre Gegner! Sie wollten zurück nach Hause zu ihren Familien oder selber eigene Familien gründen und in Frieden leben. Den „Heldentod“ wollte keiner von ihnen sterben. Nein!

Heute (74 Jahre nach Kriegsende)  gibt es wieder deutsche Soldaten. Aber etwas ist gegenüber der Zeit des Dritten Reichs entscheidend anders! Die Bundeswehrsoldaten werden nach Afghanistan, Mali oder sonst wohin nach Mehrheits-Entscheidungen eines frei gewählten Parlaments geschickt.

Die Menschen und auch die Soldaten damals in Deutschland, die auch keinen Krieg wollten, hatten 1939 jeden Einfluss auf das politische Geschehen verloren. Die ganze politische Macht war 1933 in die Hände eines Mannes gefallen, der von Hass zersetzt war. Hitler wollte Krieg! Er wollte Land rauben und Menschen anderer Rassen vernichten. Obwohl das alle wissen konnten, die es wissen wollten, wurde Hitler 1933 mit 43,9 % der Stimmen aller Deutschen gewählt. Das war zwar nicht die absolute Mehrheit. Aber Hitler verstand es, mit Winkelzügen und brutaler Gewalt nach wenigen Monaten die erste deutsche Demokratie auszuschalten.

Um seine wahnwitzigen Ideen durchzusetzen, benutzte er dann, unterstützt von willigen Helfern, das ganze deutsche Volk, um seine Kriege zu beginnen und Europa in die größte Menschen-Katastrophe der Neuzeit zu führen.

Nach diesem vorher so noch nie erlebten Debakel der Menschheit stand in riesengroßen, feuerroten Lettern am Himmel:

„NIE WIEDER KRIEG!“

Wenn heute, 2019, 74 Jahre später, bei den vielen Gedenkansprachen zum Volkstrauertag und auch anderen Anlässen der Satz „Nie wieder Krieg“ fällt, winken die Älteren resigniert ab oder zucken mit den Schultern. Viele Jüngere hören gar nicht mehr hin. Bei ihnen haben andere Themen absolute Priorität. Prof. Dr. Martin Balle schrieb am Samstag, dem 19. Oktober 2019 in der Straubinger Zeitung: „Die letzten Zeitzeugen, die das Grauen des zweiten Weltkriegs miterlebt haben, sterben jetzt aus. Die Erinnerung verblasst und die Motivation zum Frieden, die von diesem Erinnern ausging, wird weniger.“

Wer heute mit jungen Menschen spricht, der muss häufig eine erschreckende Geschichtsvergessenheit feststellen. Ihre Erinnerung beginnt oft genug mit dem Entstehen der digitalen Welt vor 30 Jahren. Was davor lag, vor allem auch die Entwicklung Europas über die Jahrhunderte, ist für viele weit weg. Und eigentlich unfassbar: Krieg scheint wieder zum Alltag zu gehören. In jeder Nachrichtensendung müssen wir die erschreckenden Bilder von explodierenden Granaten und Raketen, ungebremster Gewalt, vor allem gegen Zivilisten, und Millionen fliehender Menschen betrachten.

Nach unserer Israel-Palästina-Reise 2015 habe ich in mein Reisetagebuch unter anderem folgendes Fazit geschrieben: „Das Land ist voll Hass und Aggression. Friede nirgendwo in Sicht und alle haben Recht! Nirgendwo Bereitschaft zu vergessen oder gar zu vergeben. Religionen, die auf engstem Raum zusammenleben, Frieden predigen, aber über die Putzordnung in der Grabeskirche in wilden Streit geraten. Seit 2015 hat sich an diesen Feststellungen nicht viel geändert. Es ist eher noch schlimmer gekommen.

Nicht enden wollenden Konflikte in Syrien, dem Irak und Iran, Jemen, Ostukraine, Gaza und Türkei, und das sind noch lange nicht alle! Überall auf der Welt herrscht Hass, Krieg und Gewalt. Aber auch in unseren sozialen Netzwerken triefen die Texte geradezu  vor Hass und enthemmter Gewalt. Dazu scheint die Sprache mancher führender Regierungschefs immer mehr zu verrohen. Im Beschimpfen ihrer politischen Gegner kennen sie keine Hemmungen mehr.

Eigentlich nicht verwunderlich, dass sich sehr viele Menschen wie Schnecken oder Schildkröten am liebsten in ihr eigenes Haus zurückziehen wollen. Sie wollen mit einem Salto rückwärts in den scheinbar überschaubaren Nationalismus den aktuellen Problemen, wie Globalisierung, ungezähmten Kapitalismus und den unzähligen Konflikten entfliehen. „Rückwärts“ geht aber nun mal nicht im Leben!

Prof. Dr. Balle schreibt dazu über die Philosophie seines Freundes, den Religionsphilosophen Eugen Biser, dass auch der einzelne Mensch, wenn er den Boden unter den Füssen verliert, ins buchstäblich Bodenlose falle, offen werde für Gewalt und das Böse. So wie die Völker der Welt im Krieg die Zivilisation hinter sich ließen, so verliere auch der einzelne Mensch im Alltag seine Fähigkeit, gut zu bleiben, wenn ihm, aus welchen Gründen auch immer, seine Welt über den Kopf wachse. (Zitat Ende)

Ja, das kennen wir! Schlummert nicht in jedem von uns Aggression, Wut, Zorn und Hass? Denken wir nur einmal an bestimmte Verkehrssituationen, in denen wir (hoffentlich ohne die Kinder!) anonym in unserem Auto den Vordermann oder Hintermann mit wüsten Schimpfwörtern belegen und uns die Zornesader schwillt.

Können wir etwas tun gegen den allen Frieden vernichtenden Hass in der Welt? So wie die Jugendlichen den „Friday for future“ initiiert haben, könnten wir doch den Volkstrauertag zum Tag „against the hate in the world“ nutzen! Wir könnten wenigstens heute am Volkstrauertag wieder einmal über die Folgen von Hass und Gewalt in unserem unmittelbaren Umfeld nachdenken, in der Familie das Gespräch darüber suchen und diese dunkle Seite in uns erkennen und wann immer auch bekämpfen.

Das ist kein neuer Gedanke und er ist auch nicht so originell. Oft habe ich das an dieser Stelle schon gesagt, aber es ist auch trotz der jährlichen Wiederholung immer noch zutreffend. So wie wir heute auch wieder aller Opfer von Gewalt und Terror gedenken, dabei ganz speziell unseren Gefallenen und Vermissten der beiden Weltkriege.

Charles de Gaulle hat einmal geschrieben: „Die Seelengröße eines Volkes erkennt man daran, wie es nach einem verlorenen Krieg seine gefallenen und besiegten Soldaten behandelt!“  

Der Volkstrauertag und die liebevolle Pflege der Kriegerdenkmäler hier in Mitterfels ist in dieser Beziehung ein positives Signal an die Familien der Toten und aber auch ein Beispiel für die jüngeren Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Und was machen wir mit dem Hang zur Gewalt, zum Zorn und zur Wut in uns? Da habe ich zum Schluss wieder eine kleine Geschichte:

Es war einmal ein kleiner Junge, der schnell ausrastete und ärgerlich wurde. Sein Vater gab ihm einen Hammer und eine große Tüte voller Nägel. Jedes Mal, wenn er ausrastete, sollte er einen Nagel in den Holzzaun hinter dem Haus schlagen, statt seine Wut an Menschen auszulassen. Am ersten Tag schlug der Junge 30 Nägel in den Zaun. Die Tage vergingen und mit ihnen nahm auch die Zahl der Nägel ab, die der Junge in den Zaun schlug. Er fand heraus, dass es einfacher war nicht auszurasten, als Nägel in den Zaun zu schlagen.

Schließlich kam der Tag, an dem der Junge überhaupt nicht mehr das Bedürfnis hatte, Nägel in den Zaun zu schlagen. Als sein Vater das erkannte, riet er ihm, nun für jeden Tag ohne Ausraster, einen Nagel aus dem Zaun zu ziehen.  

Nach einigen Wochen berichtete der Junge stolz seinem Vater, dass er alle Nägel herausgezogen hatte. Der Vater ging mit dem Jungen zum Zaun. „Das hast du gut gemacht. Ich bin sehr stolz auf dich. Aber schau dir all die Löcher an. Der Zaun ist nicht mehr der, der er einmal war. Denk daran, wenn du das nächste Mal etwas im Ärger zu anderen sagen willst. Deine Worte können eine Narbe hinterlassen, so wie die Nägel ihre Spuren im Zaun hinterlassen haben. Auch wenn du hinterher sagst, dass es dir leid tut, die Wunde ist dennoch da!

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