Deutsche Geschichte
KZ -Todesmarsch durch Mitterfels am 25. April 1945
24 Namenlose fanden im Gemeindegebiet den Tod
Nach fünfzig Jahren [der Beitrag wurde für das Mitterfelser Magazin 1/1995 geschrieben! Red.] ist es an der Zeit, ein Stück Vergangenheit zu bewältigen, das lange verdrängt wurde. Dies konnte verschiedene Gründe haben ...
... sei es, dass die Bewältigung der Gegenwart wie in den 50er-Jahren oder der Aufbau des Wirtschaftswunders wie in den 60er-Jahren wichtiger schien - oder: man wollte an die dunklen Kapitel der deutschen Vergangenheit einfach nicht mehr erinnert werden.
1995 wurde der Gräuel des Krieges und des Nazi-Terrors mit all seinen schrecklichen Folgen in vielen „Feierstunden“, Berichten und Betrachtungen ausführlich gedacht. Wichtig für die Zukunft ist jedoch die Erkenntnis, dass Geschichte nicht irgendwo stattgefunden hat, sondern dass sie sich auch im Lebensraum jedes einzelnen, eben in der Heimat ereignet hat. Der folgende Beitrag will ein solches „dunkles Kapitel“ aufgreifen.
In den letzten Monaten des zweiten Weltkriegs wurden Tausende von Häftlingen wegen des Heranrückens der Front aus den KZs im Osten ins Reichsgebiet transportiert. Im Lager Flossenbürg, das ursprünglich für 3000 Gefangene geplant war, befanden sich gegen Kriegsende ca. 16.000 Häftlinge. Deshalb entschloss man sich zu Evakuierungen. Dafür gab es verschiedene Gründe: einmal wurden durch die Überfüllung die Zustände im Lager immer unhaltbarer, zum anderen sollten die Gräueltaten in den Lagern den Siegermächten verborgen bleiben, und außerdem wurden die Häftlinge auf den „Todesmärschen“ nach Süden getrieben, um sie in der „Alpenfestung“ für Rüstungsaufgaben einzusetzen.
Die entsetzlichen Spuren der Todesmärsche zogen sich auch durch unseren Landkreis. Aus Quellen der US-Army konnten fünf Marschstrecken durch das Straubinger Gebiet ermittelt werden.1 (Siehe Karte!)
Einer dieser Elendszüge führte auch durch Mitterfels. Die Aufstellung über die Zahl der Toten in den einzelnen Orten von Zinzenzell bis Hailing zeigt die grausame Bilanz dieser Märsche.2
Todesmärsche über Mitterfels/Bogen
Gemeinde Anzahl der Toten Datum der Umbettung
Zinzenzell 4 8. 11. 58
Pilgramsberg 20 9. 11. 58
Heilbrunn 19 8. 11. 58
Rattiszell 13 6. 11. 58
Haselbach 28 4. 11. 58
Mitterfels 24 4. 11. 58
Oberalteich 6 8. 10. 57
Bogen 1 (?) 8. 10. 57
Ittling 1 (?) 7. 8. 58
Schamhach 15 1. 10. 57
Reißing 2
Hankofen 5 1. 10. 57
Hailing 8 1. 10. 57
Die Toten in den einzelnen Gemeinden mussten in der Regel auf Anordnung der Ortpolizei von den Dorfbewohnern „unter die Erde gebracht“ werden, d. h. sie wurden notdürftig „verscharrt“. Unmittelbar nach Kriegsende, oft erst auch einige Wochen später wurden die bereits verwesenden Leichen wieder ausgegraben und in den Friedhöfen mit kirchlichen Weihen beigesetzt. Die Einträge in den Pfarrmatrikeln berichten darüber.3
Auszug aus den Pfarrmatrikeln der Pfarrei Mitterfels
"Todesmärsche"
In Mitterfels sind wir außerdem durch die Tagebuchaufzeichnungen des damaligen Hauptlehrers Karl Heiß ausführlich unterrichtet:4
„Der 25.4.45 wird bei allen damals Anwesenden in dauerndem Gedächtnisbleiben. Um 10 Uhr vormittags trieben die SS auf der Straße Haselbach – Mitterfels - Bogen mehrere Hunderte von Häftlingen aus dem KonzentrationslagerFlossenbürg. Auf einem Wagen fuhren die SS; Hunde wurden den Häftlingen nachgehetzt. 19 Tage und Nächte waren diese Menschen schon unbarmherzig durch Schläge auf das Hinterhaupt mit 1 m langem Stock von 4 cm Dicke vorwärts getrieben. Erschütternd war ihr Aussehen und ihre mit gefalteten Händen gerichtete Bitte um Brot und Wasser. Sie sollten wahrscheinlich nach Dachau gebracht werden; denn ein begleitender SS fragte in Mitterfels, wie weit nach Dachau wäre. Mitleidige Menschen wurden gewaltsam daran gehindert, den halb Verhungerten und Verdürsteten Speise und Trank zu reichen. Es hatte den Anschein, als sollte durch den langen Marsch die Zahl der Häftlinge verringert werden. Durch den Ort wurden Erschöpfte von kräftigeren Leidensgenossen geschleppt und außerhalb desselben von SS durch einen Schuss in das Hinterhaupt erledigt. (Als die SS hörten, dass die Ami in Ascha seien, schwenkten sie über Scheibelsgrub nach Bogen ab.) Im Grimmholz bei Ro(g)gendorf lagen 6, bei Scheibelsgrub 18 solcher Opfer.Kein Mensch kannte sie nach Namen, Stand oder Wohnort. Landwirt Johann Wartner von Scheibelsgrub versuchte bei Bürgermeister Schmatz wegen Beerdigung der Ermordeten Auskunft einzuholen, konnte ihn aber nicht erreichen. Er rief telephonisch Gendarmerie-Wachtmeister Fuchs an, welcher Beerdigung an Ort und Stelle anordnete. Um ca. 5 Uhr abends wurde die Bestattung der Toten von Männern aus Scheibelsgrub durchgeführt ..... .
Am 17. Mai 1945 wurde auf Betreiben der Ortskommandantur die feierliche Beisetzung der 24 ermordeten KZ-Häftlinge durchgeführt. Männer von Scheibelsgrub exhumierten ihre Leiber und betteten sie meistens in Doppelsärge. Die Bretter dazu waren von Bauern unserer Gemeinde gespendet. Beim Feldkreuz auf der Steinriesl war der Sammelpunkt der Trauergäste, einen Teil der Särge fuhr der Bauer Anton Hafner von Straßhof; einen 2. Teil brachte der Bauer Johann Bachl von Miething über Kreuzkirchen. Dem Wagen folgten die Trauergäste, obwohl der Leichengeruch recht arg war. Im westlichen Teil des neuen Friedhofs war ein großes Massengrab ausgehoben, welches seine ganze Breite einnahm. Meistens wurden darin 2 Särge aufeinander gestellt. H. H. Geistl. Rat Brettner und Bürgermeister Schmatz geißelten die verabscheuungswürdige Tat der SS. Ein polnischer Offizier sprach am Grabe im Namen der Beerdigten den Dank für die ehrenvolle Bestattung aus. Auch er wusste keine Namen der Ermordeten. Das Grab musste auf Anordnung der Amerikaner mit Moos belegt und einem Denkmal versehen werden.“
Einer, der beim „Eingraben“ der Leichen mithelfen musste, ist Josef Gattung aus Scheibelsgrub. Als Zeitzeuge berichtet er:5
Abb. links: Zeitzeuge Josef Gattung berichtet bei einer Veranstaltung in Straubing - Abb. rechts: Josef Gattung zeigt die Stelle, an der die Häftlinge vergraben wurden.
„Mitte Februar 1945, noch nicht 16 Jahre alt, wurde ich in das Wehrertüchtigungslager Spitzberge im Böhmerwald einberufen. Nach einigen Wochen militärischer Ausbildung wurde ich vor dem Kriegsende in das Lager nach Straubing versetzt. Kurz vor Eintreffen der Amerikaner ging ich nach Hause.
Am 25. April 1945, ein Tag vor dem amerikanischen Einrücken, ereignete sich ein furchtbares Geschehen. Zuerst hörte ich nur ein unerklärliches Jammern und Murmeln. Da lief ich aus der Schmiedewerkstatt und sah bewaffnete SS-Leute, die einen langen Zug von Häftlingen wie eine Viehherde durch Scheibelsgrub trieben. Abgemagerte, kahlgeschorene Menschen murmelten nach Wasser und Brot. Einige Leute aus unserem Dorf wollten den Menschen etwas geben, wurden aber von dem Begleitpersonal zurückgewiesen. Vor unserer Hauseinfahrt lag ein Haufen Rüben, worauf sich einige Häftlinge stürzten. Die ergatterten Rüben wurden den Häftlingen mit heftigen Schlägen von den SS-Leuten wieder aus der Hand geschlagen.
Nach einer Frage eines SS-Mannes, wie weit es noch bis Dachau sei, wollte ich wissen, um was für Menschen es sich hier handle. Es wurde mir darauf gesagt, das seien Mörder; Kriegsverbrecher und Zuchthäusler. Wir hörten immer wieder Schüsse. Das schreckliche Ergebnis sahen wir am nächsten Tag. Im ungefähr ein Kilometer entfernten Wald neben Scheibelsgrub fanden wir 18 erschossene Häftlinge verstreut herumliegen. Der Mitterfelser Polizeikommissar befahl mir, bei der Eingrabung der Leichen mitzuhelfen. Einige alte Männer aus unserem Dorf und ein paar Jugendliche schleiften die 18 erschossenen Häftlinge zu einem ausgehobenen Graben in unserer Wiese. Mit ihren dünnen, zerrissenen Häftlingsgewändern haben wir die Menschen in das Massengrab gezerrt. Dieses schreckliche Ereignis lässt sich mit Worten gar nicht beschreiben, man kann es aber nie vergessen. Nachdem die Amerikaner waren, mussten wir nach ca. einer Woche die Menschen wieder ausgraben, und diese wurden dann im Mitterfelser Friedhof beerdigt. Von dort kamen sie später in einen KZ-Friedhof.
Dieses große Verbrechen, das an diesen Menschen begangen wurde, ist mir immer noch in furchtbarer Erinnerung. Deshalb sind meine Fragen hierzu: Warum wurde über diese grausame Vertreibung kaum etwas berichtet? Wieviele Menschen könnten überlebt haben? Wer waren die Vertreiber, leben manche vielleicht noch unter uns?“
Eine weitere noch lebende Zeitzeugin aus Mitterfels ist die Ordensschwester Tabitha Popp. In einem Erlebnisbericht zum Kriegsende schreibt sie:6
„Am 25. April nahmen wir schon frühzeitig das Mittagessen ein. So gegen 11 Uhr sahen wir vom Tisch aus auf der oberen Straße eine Kolonne von Menschen. Sie gingen sehr schnell. Es sah danach aus, als müssten diese Leute auch Wägen mitziehen. Es handelte sich um einen langen Zug, der mit einer großen Beerdigung zu vergleichen war. Auch stellten wir fest, dass es sich um keine militärische Formation handeln konnte. Erst später erfuhren wir, dass es ungefähr 400 KZ-Häftlinge aus Flossenbürg waren, die von der SS wahrscheinlich nach Dachau getrieben werden sollten. Unsere Einwohner oben an der Straße kamen aus ihren Häusern und wollten diesen Armen Brot und zu trinken geben. Die SS-Bewacher verboten dies und schlugen auf die Häftlinge ein. Im Wald bei Ro(g)gendorf wurden sechs von ihnen und in Kreuzkirchen dann achtzehn von den SS-Schergen erschossen, weil sie wegen ihrer Erschöpfung das Tempo nicht mehr einhalten konnten.“
Abb. links: Aus einem Schulheft von Frau Elisabeth Eberhardt (geb. Müller)
Mit Erzählungen, die nicht von Zeitzeugen stammen, sondern nur weitergegeben wurden, ist es ratsam, sehr sorgfältig umzugehen. So wird z. B. erzählt, dass ein Häftling im Wald bei Kreuzkirchen entkommen konnte. Er schlich sich am Abend nach Scheibelsgrub zurück und bat im Hause des Johann Wartner um Essen und Trinken. Er hatte sich beim Durchmarsch durch Scheibelsgrub das Haus gemerkt, wo man den Erschöpften Milch reichen wollte, jedoch von den SS-Begleitern daran gehindert wurde. Dieser Gerettete soll der polnische Offizier gewesen sein, der bei der Beisetzung im Friedhof in Mitterfels am 17. Mai 1945 den Dank für die ehrenvolle Bestattung gesprochen hat.
Nähere Recherchen ergaben zwar, dass ein Häftling wie beschrieben gerettet wurde; Frau Elisabeth Baumeister, geb. Wartner, bestätigt dies. Es ist auch verbürgt, dass bei der Beisetzung ein polnischer Offizier gesprochen hat. Unwahrscheinlich ist jedoch, dass es sich dabei um den entflohenen Häftling handelte. Wie Herr Georg Hiendl, Mitterfels, berichtet, habe sich dieser entflohene Häftling etwa eine Woche lang im Hause Hiendl versteckt, weil die Lage bis zum Kriegsende sehr ungewiss war. Ob der bei ihnen Versteckte ein polnischer Offizier war, könne er nicht sagen. Er habe zwar gut Deutsch gesprochen, und der damals 11-jährige Georg Hiendl habe zu dem Polen ein geradezu freundschaftliches Gefühl entwickelt; er habe ihm sogar versprochen, bei der Firmung den Firmpaten zu machen. Als der Pole nach einer Woche verschwand, sei er (Georg Hiendl) sehr enttäuscht gewesen. Wenn es sich um den polnischen Offizier gehandelt hätte, der bei der Beisetzung am 17. Mai sprach, hätte er bei dieser Gelegenheit bestimmt die Familie besucht, die ihm kurz vorher das Leben gerettet hatte, und sich bedankt.
Wie eingangs erwähnt, wurde in den Nachkriegsjahren kaum über diese Zeit gesprochen. Die damals heranwachsende Generation hat wenig gehört über die nur wenige Jahre zurückliegenden schrecklichen Ereignisse, auch in der Schule in der Regel nicht. Eine der wenigen Ausnahmen scheint die Lehrerin Margarethe Prandl gewesen zu sein, die von 1946 bis 1952 an der Volksschule Mitterfels Schulleiterin war. Frau Elisabeth Eberhardt, geb. Müller, im November 1951 Schülerin der vierten Klasse, hat ein Schulheft aus jener Zeit aufbewahrt, das als Nachweis an das Massengrab der KZ-Häftlinge erinnert. Wie Elisabeth Eberhardt erzählt, habe die Lehrerin M. Prandl alle Kinder, die kein Familiengrab im Friedhof in Mitterfels hatten, beim damals üblichen Friedhofsgang an Allerseelen, zum Beten an das KZ-Grab geschickt.7
Zur Beisetzung am 17. Mai 1945 hatte der damalige Benefiziat Dr. Rußwurm ein Gedenkblatt mit der Inschrift des späteren Ehrenmales und der Ansprache, die BGR Josef Brettner bei der Trauerleier hielt, drucken lassen.8 Obwohl damals sicher eine größere Anzahl dieser Gedenkblätter gedruckt wurden, ist nur noch ein einziges Exemplar im Original vorhanden. Es befindet sich im Besitz des unermüdlichen Sammlers Josef Brembeck aus Haselbach.
Leider wurde, wie in allen anderen Orten des ehemaligen Landkreises Bogen, das Ehrenmal in Mitterfels bei der Exhumierung (der Leichen) im Jahre 1958 entfernt und ist nicht mehr auffindbar. Dass das ebenfalls 1958 in Haselbach entfernte Denkmal heute wieder im alten Haselbacher Friedhof steht, ist wiederum ein Verdienst von Josef Brembeck, der es damals von der Gemeinde erwarb und bei der Umgestaltung des aufgelassenen Friedhofs (als damaliger Kirchenpfleger) wieder errichten ließ.
Abb. links: Gedenkstein auf dem alten Friedhof in Haselbach neben der Friedhofskapelle - Abb. rechts: Jüdische Rabbiner und christliche Pfarrer beten gemeinsam am Ehrenmal bei der Gedenkfeier am 23. April 1995 in Straubing.
Am 23. April 1995 fand in Straubing am Hagen zum 50. Jahrestag eine sehr eindrucksvolle Gedenkfeier statt; etwa 500 Bürger - darunter zahlreiche Vertreter des Öffentlichen Lebens - nahmen daran teil. Dabei wurde das vom Straubinger Künstler Meinhart Meyer gestaltete Mahnmal übergeben, das die „Arbeitsgemeinschaft Gedenken Todesmarsch Flossenbürg 1945“ in Auftrag gegeben hatte. Neben einer aufrüttelnden Ansprache von Prof. Dr. Andreas Angerstorfer von der Katholisch-Theologischen Universität Regensburg beteten christliche Geistliche und jüdische Rabbiner gemeinsam einen Psalm aus dem Alten Testament.
Es wäre sinnvoll und wünschenswert, wenn in den Gemeinden des Landkreises, in denen Häftlinge zu Tode kamen und in den jeweiligen Friedhöfen beigesetzt wurden, ebenfalls Denkmäler errichtet würden.
Quellenangaben:
1) Scharrer, Guido: Todesmärsche aus dem KZ Flossenbürg durch die Stadt Straubing und den Landkreis, Straubing 1995 - S. 9
2) Quelle 1 -S. 10
3) Pfarrmatrikel Mitterfels
4) Tagebuchaufzeichnung von Hauptlehrer Heiß, Mitterfelser Schu1chronik - Band 1
5) Quelle 1 - S. 36 (Josef Gattung hat dem Autor auch eine Tonbandaufzeichnung zur Verfügung gestellt.)
6) Erlebnisbericht der Ordensschwester Tabitha Popp
7) Schulheft (4. Kl.) von Frau Elisabeth Eberhardt
8) Quelle 1 - S. 35
Erstveröffentlichung: Alois Bernkopf, 25. April 1945: KZ-Todesmarsch durch Mitterfels; Mitterfelser Magazin 1/1995 S. 34ff
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