Bayerische Geschichte
Leopoldsreut - Mythos eines untergegangenen Dorfes am 1000-jährigen Goldenen Steig
1962 berichteten Deutschlands Zeitungen hinauf bis nach Hamburg vom "sterbenden Dorf" Leopoldsreut bei Bischofsreut im Unteren Bayerischen Wald. In diesem Jahr verließen die letzten Bewohner das 1108 m hoch gelegene Dorf, das sie nur "Sandhäuser" nannten. Der Forst kaufte die Grundstücke, die Häuser wurden abgerissen. Nur die Kirche und das kleine Schulhaus blieben stehen. Die einstige Dorfstraße wurde zur Forststraße, die mitten durch Fichtenwald verläuft. Aber der "Mythos" Leopoldsreut lebt. Im Rahmen der Festivitäten "1000 Jahre Goldener Steig" 2010 wurde erstmals ein historisches Festspiel auf der Lichtung vor Kirche und Schulhaus Leopoldsreut aufgeführt, 2012 ist es wieder zu sehen. 120 Menschen aus den umliegenden Gemeinden sind als Spieler oder Statisten dabei, darunter viele Kinder. Leopoldsreut, Sandhäuser, lebt weiter - in den Herzen der Menschen.
Leopoldsreut - ein versunkenes Dorf (Fotostrecke von pnp-online) [... zur Fotostrecke]
Textbeitrag des BR - Land und Leute [Botschaft eines verlassenen Dorfes]
Meine Zeit als Forstanwärter in Leopoldsreut
Autor: Matthias Simstich – der letzte Förster im sterbenden Dorf
Postkarten von 1906
Vom 16. Juli bis 1. Dezember 1962 wurde ich als junger Revierförsteranwärter zum Forstamt Bischofsreut auf die verwaiste Forstdienststelle Leopoldsreut versetzt. Von diesem Ort wusste ich nur, dass er auf 1100 m Höhe lag, aber nicht was dies bedeutete - ich sollte es noch erfahren.
Am Tag meines Dienstantritts herrschte ein angenehm warmer Sonnenschein über Leopoldsreut, und das sterbende Dorf, von der Bevölkerung „Sandhäuser“ genannt, lag friedlich vor mir. Die drei Familien im Ort nahmen mich freundlich auf. Ich fühlte mich von Anfang an wohl dort oben, obwohl mich das mitten im Dorf gelegene Forsthaus mit leeren Fenstern angähnte. Aus irgendeiner Hütte erhielt ich ein Bett, das ich im leeren Wohnzimmer aufschlug. Als Wohnung nutzte ich das Büro und hauste zwischen Aktenstaub und Schreibkram. Aber für Schreibarbeit blieb sowieso nur wenig Zeit: draußen im Wald warteten zwanzig Waldarbeiter und eine Waldarbeiterin auf mich, die täglich besucht und mit Arbeit versorgt sein wollten. Ich hatte das Glück mit guten Leuten zusammenarbeiten zu dürfen, so dass es eine Freude war, dieses Revier mit 1100 ha geschlossener Waldfläche als junger, noch unerfahrener Forstmann betreuen zu dürfen.
Es war die Zeit des technischen Umbruches in der Staatsforstverwaltung. Die Motorsäge hielt gerade ihren Einzug bei der Holzfällung im Wald, und bei der Holzrückung wurden die Pferde allmählich vom Bulldog mit Seilwinde verdrängt. Es geschah noch viel per Hand, aber die Zeit der Maschinenarbeit stand bevor. Im übrigen Bayern vollzogsich diese Umwandlung auch in der Landwirtscha ft. Nach und nach kaufte sich jeder Landwirt, der es sich leisten konnte, einen Traktor und stellte sich anstatt der Pferde oder Ochsen zwei Kühe mehr in den Stall. Nur in Leopoldsreut war dies nicht so.
Aufgrund der Höhenlage herrschten hier schon immer schwierige Produktionsbedingungen, und die Bauern konnten dort oben nur mit einem guten Nebenverdienst auskommen. Die Entstehungsgeschichte und vor allem das Ende des Dorfes beschreibt sehr anschaulich mein damaliger Chef, Oberforstmeister Richard Schirmer (Leopoldsreut, die Geschichte eines untergegangenen Dorfes im hinteren Bayerischen Wald. Geographische Gesellschaft München : Landeskundliche Forschungen, Heft 42 . 1964): Fürstbischof Leopold von Passau ordnete im 17. Jahrhundert die Gründung des Dorfes zur Sicherung des Goldenen Steiges an, als letzte Durchgangsstation vor der Grenze nach Böhmen. Zur Überwindung der Steilhöhe von Grainet über den Haidelberg waren die neun berechtigten Bauern von Leopoldsreut gefragte Helfer für die Salzsäumer. Diese ließen viel Geld im Dorf, das im Laufe der Zeit auf 21 Häuser anwuchs, mit einer Ortsflur von 125 ha Felder und Wiesen. In jener Zeit passierten bis zu 1300 Pferde allwöchentlich die Siedlung.
Postkarten aus den Jahren 1906 (oben) und 1935
Als jedoch um 1705 das verkehrstechnisch günstiger gelegene Bischofsreut gegründet wurde, ging die Bedeutung von Leopoldsreut als Grenz-, Maut-, Pferdewechsel- und Raststation zurück. Bald darauf verlor der Goldene Steig ganz an Bedeutung, weil die Habsburger den Salzhandel über Österreich nach Böhmen lenkten. Die Bauern und die übrign Bewohner von Leopoldsreut mussten sich um andere Einkommensquellen umschauen. Neben der Erzeugung ihres Eigenbedarfes an Roggen, Hafer und (später) Kartoffeln betrieben sie nur Viehhaltung und Flachsanbau. Es entstanden Nachrodungsflächen rund um die Dorfflur, sogenannte Raumreuter mit insgesamt ca. 100 ha Fläche. Aber diese Flächen waren nicht besonders fruchtbar. Man sprach bereits von einer nicht schlechten Ernte, wenn man die dreifache Saatgutmenge erzielte. Dieses armselige Ergebnis konnte auch nicht während des allgemeinen Aufschwunges der deutschen Landwirtschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts verbessert werden.
Neben der Landwirtschaft arbeiteten die Leopoldsreuter in den Glashütten und Hammerwerken der Umgebung. Als in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Holztrift erfunden wurde, konnten sie in Heimarbeit hrgestellte Holzwaren (Siebzargen und Zündholzdraht) mit den Flößen von Passau bis nach Wien und Budapest verschicken. So war ein Auskommen zu finden. Jedoch, der Niedergang der Glasindustrie und des Eisenhammerwerks in Haidmühle führte 1864 zu einer ersten Abwanderungswelle aus Leopoldsreut: Sechs forstberechtigte Großhäusler und zwei nichtberechtigte Kleinhäusler verkauften ihre Anwesen an die Forstverwaltung, da keine anderen Käufer interessiert waren. Die zweite Abwanderungswelle kam zwischen 1883 und 1891, als die Zollpolitik der deutschen Reichsregierung zu starken Einbußen in der Landwirtschaft führte und der Flachsanbau durch billige Baumwollwaren aus England beinahe zum Erliegen kam.
In den Jahren von 1862 bis 1870 wurde mit einer intelligenten Idee als forsttechnische Großtat ersten Ranges der Weberaubach-Triftkanal gebaut, über den das Holz der zur Moldau hängenden Wälder in Richtung zur Donau über die Ilz transportiert werden konnte. Damit konnte endlich der riesige Holzsegen der Gegend nutzbar gemacht werden. ImJahre 1887 wurde die Waldwärterstelle von Grainet nach Leopoldsreut verlegt. Der Ort wurde zu einem Waldarbeiterdorf, aber mit laufend abnehmender Tendenz:
1890 waren es 35 Waldarbeiter bei 152 Einwohnern,
1938 waren es 12 Waldarbeiter bei 80 Einwohnern,
1954 waren es 8 Waldarbeiter bei 70 Einwohnern,
1956 waren es 5 Waldarbeiter bei 35Einwohnern und
1962 waren es nur noch 1 Waldarbeiter und 1 Waldarbeiterin bei 12 Einwohnern.
Am 1. 11. 1962 ist der letzte Waldarbeiter Hubert Wachtveitl mit Familie, der zuletzt noch die ehemalige Gastwirtschaft bewohnt und pachtweise bewirtschaftet hatte, nach Grainet abgezogen, um von dort aus seiner bisherigen Berufsarbeit nachzugehen. Dieses „Gasthaus zur luftigen Höhe“ war das letzte berechtigte Anwesen, das der Staatsforstverwaltung 1961 angeboten und dann 1962 gekauft worden war, weil kein anderer Käufer dafür gefunden werden konnte. Damit wurde es einsam im Dorf und ich musste auf dem Kanonenöfchen in meinem Büro das Kochen erlernen. Ich hatte so wenig Geschick und Freude dabei, dass ich beschloss, kein Junggeselle zu bleiben. Noch an Weihnachten desselben Jahres wurde Verlobung gefeiert.
Von "Sandhäuser" (Leopoldsreut) blieben nur das St. Nepomuk-Kirchlein und die ehemalige Volksschule.
Richard Schirmer schreibt: „So ist Leopoldsreut schließlich auch von der ortsansässigen Bevölkerung geräumt worden. Die Tatsache , dass für etwa 10 Waldarbeiter alljährliche Vollbeschäftigung möglich gewesen wäre, dass der erforderliche Wohnraum einschließlich landwirtschaftlicher Betriebseinrichtungen ausreichend und billig zur Verfügung gestanden hat und dass für eine landwirtschaftliche Nebentätigkeit genügend zum Betriebssitz günstig liegende Nutzungsflächen vorhanden waren, hat die Abwanderung vielleicht verzögern, nicht aber aufhalten können. Dies lässt darauf schließen, dass neben persönlichen Motiven nicht wirtschaftliche, sondern die allgemeinen Lebensbedingungen von Leopoldsreut entscheidend gewesen sein müssen.“ Der Volksmund hatte dafür folgenden Spruch: „Dreiviertel Jahr Winter, ein viertel Jahr kalt, so ist's in Sandhäuser im Bayerischen Wald.“
Dies unterstreichen auch die Klimadaten:
In diesem Dorf war ich also gelandet und durfte die letzten Monate des Dorflebens im höchsten Dorf des Bayerischen Waldes miterleben. Ich erinnere mich noch immer gerne daran. In einem Brief vom 22. 7. 1962 schrieb ich folgende Zeilen: „Ja das sterbende Dorf: ich erlebe in diesen Monaten die letzten Zuckungen eines einst blühenden Dorfes, das 1624, als eines der ersten hier in dieser Gegend entstanden ist. Es wohnen noch zwei einheimische Familien hier, die einem das Gefühl der engen Dorfgemeinschaft noch richtig vermitteln können. Darunter ein 87-jähriger Mann mit seiner Lebensgefährtin, die sehr schwer von Leopoldsreut weggehen. Hier heroben, am Dach des Bayerischen Waldes, am Ende der Welt, merkt man erst, wie wichtig der Zusammenhalt der Menschen ist. Hier gilt nicht groß noch klein, sondern allein die Erfüllung der gestellten Aufgabe. Danach wird man beurteilt.“
In einem weiteren Brief vom 26.7.62 schrieb ich: „Die Natur selbst ist hier noch etwas unberührter, nicht so sehr verwandelt wie in den Tiefen des Lande. Ja vieles gibt es zu sehen und noch mehr könnte man sehen und hören - nur müsste man Augen und Ohren dafür haben. Gerade habe ich meine liebe Not mit der Karbidlampe gehabt. Sie brannte dort am hellsten, wo sie nicht sollte. Die letzten Tage war die Ortswasserleitung ausgefallen. Um so eine alte Holzrohrwasserleitung zu reparieren braucht es einiges an Verständnis und handwerkliches Können. In allen Häusern fehlte das Wasser, nur bei mir - in meiner Waldesburg lief es noch, so dass ich aushelfen konnte, sofern die eigenen Hausbrunnen nicht mehr funktionierten.“
Am 29.7.62 berichtete ich über die Lebensphilosophie des einfachen Lebens: „Sandhäuser kommt mir immer näher, denn hier und nur noch hier heroben, spürt man etwas vom echten Leben. Wo die Annehmlichkeiten der Kultur und Zivilisation zurücktreten, fällt das Beiwerk, das Rankengewoge und Blendwerkweg und es bleiben nur urtümliche Dinge des Menschen übrig. Viele Nebensächlichkeiten fallen weg und es gibt nur einige wichtige Punkte. Die Häuser hier sind wunderbar gebaut. Man kann alles von innen her erreichen. In jedem Haus ist ein eigener Brunnen und in manchen sogar ein Backofen. Das ist aber auch notwendig, denn der Winter muss hier fürchterlich sein. Der Schnee und der Sturm, beides zusammen sind die großen Gegner des Menschen. Lange mussten sie kämpfen - hart, zäh und erbittert trotzten die Menschen dem Wettergeschehen. Jetzt sind sie besiegt! Heuer ziehen die letzten einheimischen Familien weg, weiter nach Westen, wo es wärmer und das Leben nicht so schwer ist.“
Mit meinem Brief vom 29. Oktober 1962 hielt ich das endgültige Aus von Sandhäuser fest: „So nun ist‘s soweit - Leopoldsreut ist dahin. Die letzte Ureinwohnerfamilie ist weggezogen und es bleiben nur noch die „Zuagroasten“ übrig. Der Tag ehrte die Familie Wachtveitl noch besonders durch den ersten Schnee im heurigen Jahr. Der Schnee ist das ausschlaggebendste in Sandhäuser gewesen. Er war stets ein Gradmesser für die Stärke und „Grausligkeit“ eines Winters gewesen. Kam er früh und ging er spät, so erlitten die Menschen dadurch oft großen Schaden. Im Winter dazu noch der furchtbare Schneesturm. Bestimmt war es nicht immer leicht hier durchzuhalten. Wenn oft häuserhoch der Schnee vor den Fenstern lag und kein Mensch so recht aus seinem Bau herauskonnte, wird es den Bewohnern bestimmt manchmal eigenartig vorgekommen sein. Eingesperrt in das Haus, zusammengepfercht ward Mensch auf Mensch, wie haben sich diese dann bloß alle miteinander vertragen?“ Der Herbstföhn fraß den Oktoberschnee (20 cm) in wenigen Tagen wieder weg, so dass ich mit meinem Motorrad weiterhin meiner Arbeit nachgehen konnte. Bevor es jedoch am 1.12.62 wieder schneite, brachte ich das Motorrad und einen Teil meines Gepäcks zu meinen Eltern bei Passau und fuhr, um den Rest meiner Dienstzeit anzutreten, mit dem Bus zurück nach Bischofsreut, um von dort zu Fuß die 5 km nach Leopoldsreut zu gehen. Auf diesem Weg ging ich durch die Ortsflur des Dorfes, die im Laufe der verschiedenen Aufforstungswellen seit 1864 immer kleiner geworden war. Auch ich war in diese Arbeit mit einbezogen, da in jenem Herbst der Staatliche Maschinenbetrieb von Bodenwöhr mit einem Bifangpflug einen Teil der Restfläche von der Ortsflur umbrach. Auf die sogenannten „Bifänge“ konnten Pflanzen gesetzt werden, die dadurch einen doppelten Vorrat an Humus erhielten und in den ersten beiden Jahren der Konkurrenz des Graswuchses nicht so stark ausgesetzt waren. Noch im selben Herbst hatten die Zeitlohnarbeiter, darunter die letzte Kulturarbeiterin von Leopoldsreut, Frau Stadelbauer, Ebereschen- (Vogelbeer-)wildlinge gesammelt und diese im weitständigen Verband auf die Kulturfläche gepflanzt. Im folgenden Frühjahr sollten Fichten und eventuell auch Buchen gepflanzt werden. In dieser Höhe, auf dieser rauen Kammlage versprach nur noch die Fichte eine entsprechende Wuchsleistung. Später im Schutze des Waldbestandes würde sich noch die Buche und der Bergahorn dazugesellen.
Seither hat der Wald sein Areal wieder besiedelt. Nur noch 2 Hektar freie Wiesen, die Kirche und die Schule geben Kund von einem einst wichtigen Ort hier auf dem Dach des Bayerischen Waldes, an einem bedeutenden Handelsweg gelegen. So ändern sich die Zeiten. Meine Zeit in Leopoldsreut war abgelaufen. Ich hatte einen Hauch des urtümlichen Lebens früherer Zeiten erlebt und habe mich dabei wohl gefühlt. Am 1.12.62 verließ ich Leopoldsreut, um in den Haßbergen in Unterfranken meine Ausbildung fortzusetzen. In der Erinnerung lebt das Dorf in mir weiter. Der nachfolgende Förster zog bereits nach wenigen Tagen am 8. 12.1962 nach Grainet um, das seither wieder der Dienstsitz für die Bewirtschaftung der Waldungen rund um den Haidelberg ist.
Erstveröffentlichung in "Der Bayerwald" 4/1998
Historisches Festspiel "Der Mythos eines untergegangenen Dorfes im Bayerischen Wald"
Quelle:pnp-online (Passauer Neue Presse) vom 4. Juni 2012
Das Dorf Leopoldsreut oder "Sandhäuser", wie die Bewohner sagten, lebt - vor oder in der Pause des historischen Festspiels.
Hoamat, das ist mehr als nur ein Wort. Hoamat, das kann ein Ort ebenso sein wie ein Gefühl. Hoamat – das war für viele Menschen über 300 Jahre lang Leopoldsreut.
Heute stehen von dieser Hoamat tief im Bayerischen Wald nur mehr die Eckpfeiler: Eine Kirche und ein Schulhaus, drum herum dichtester Wald, steiniger Boden und der immerzu pfeifende böhmische Wind. Ein mystischer Ort, idyllisch und düster zugleich.
600 Besucher schon am Premierenabend. Vor zwei Jahren hat sich das Duo aus Erich Dorner (Gesamtleitung) und Michael Sellner (Autor und Regisseur) zum ersten Mal zusammengetan, um dieser verlassenen, ehemaligen Heimat wieder Leben einzuhauchen und ihrer Geschichte nachzuspüren. Nun, im Jahre 2012, jährt sich das Abschiednehmen der letzten Bewohner von Leopoldsreut zum 50. Mal, und aus diesem Anlass feierte am Freitag das 2. Festspiel Leopoldsreut Premiere mit dem Titel "Leopoldsreut. Der Mythos eines untergegangenen Dorfes im Bayerischen Wald".
Über 600 Besucher sind am ersten Abend gekommen, um das Volksschauspiel zu erleben. Und wenn man die Busfahrt durch den finsteren, unwirtlichen Wald hinter sich hat, die Daunenjacke eng um den Körper schlingt und auf der frösteligen Waldlichtung dankbar am Tee mit Rum nippt, dann ahnt man, wie es sich hier vor einigen hundert Jahren mit Holzschuhen und Leinentüchern am Körper angefühlt haben muss. Schnell noch die Decke ausbreiten, schnell die Skimütze aufsetzen, dann kann man eintauchen in die Geschichte der verlassenen Heimat.
Foto links: Wie Mahnmale ragen Schulhaus und Kapelle in die Nacht
Leopoldsreut: Die letzte Station der Säumer vor Böhmen (li.) - Ein Feuerwehrspritzenwagen kündet eine neue Zeit an.
Wie Mahnmale ragen Kapelle und Schulhaus angestrahlt in die Nacht, dazwischen liegt die schlichte, aber wirkungsvolle Holzbühne mit Leinwand, dahinter der Wald. Was nun in den nächsten vier Stunden geschehen wird, ist Laienschauspiel im besten Sinne und darüber hinaus ein gigantisches Gemeinschaftsprojekt. Die gesamte umliegende Region ist auf den Beinen, vom kleinen Mädchen mit seinen geflochtenen Zöpfen bis zum gebückten Urgroßvater spielen alle mit, vom Kinderchor bis zum Frauenbund sind alle mit dabei. Mit ansteckender Begeisterung erzählen sie die Geschichte des Grenzorts von 1618 bis 1962, kunstvoll werden gespielte Szenen, Filmeinspielungen, Erzählerteile, pointierte Dialoge und eingängige musikalische Untermalung (Martin Göth und Manfred Renoth) miteinander verwoben.
Singstunde in der einklassigen Leopoldsreuter Schule - Neue Zeiten: Die Post kommt mit dem Motorrad
Mitunter könnten Szenen prägnanter sein. Was aber den gesamten Abend hinweg fasziniert, ist das vielseitige emotionale und zutiefst menschliche Bild der Hoamat Leopoldsreut. Jenseits von schlichter Aufarbeitung der Chronologie wird hier ein Dorf zum Leben erweckt mit all seinen Geschichten, Schicksalen und Ereignissen. Da ist die Geschichte vom Knödelpreisessen, bei dem der Sieger sagenhafte 65 Knödel verdrückte. Der Besuch eines englischen Lords, der als Alternative zu seiner Morgengymnastik zum Hacken aufs Feld geschickt wurde. Oder die Legende vom Sacharin-Heiligen, in der bei einer Wallfahrt ein mit Schmugglersacharin prall gefüllter Nepomuk über die Grenze geschafft wurde.
Da sind aber auch die dunklen, beklemmenden Seiten: Wenn die Pest Angst verbreitet und der Dreißigjährige Krieg tötet. Immer wieder gelingen dem Regisseur hier starke, berührende Bilder: Der gruselig kostümierte Tod, der umherschleicht, oder der Beerdigungszug, der zu monotoner Trauermusik an den Zuschauertribünen vorbeizieht. Es darf aber auch geschmunzelt werden, wenn der Waidler-Seele liebevoll gehuldigt wird, mit ihrer herrlichen Direktheit, ihrem zelebrierten Grant, ihrem Hintersinn und ihrer Verschrobenheit. "Er ist zwar der Hellste ned", heißt es da zum Beispiel über den Ehemann, "aber dafür hod er ja mi".
Foto rechts: Die Pest verbreitet Angst...
Am Ende dieses gefühlsvollen, ebenso amüsanten wie bewegenden Festspiels steht eine Botschaft: Geht gut mit eurer Heimat um und bewahrt die Dörfer des Bayerischen Waldes, damit es ihnen nicht wie Leopoldsreut ergeht! Ein gewagter Appell, beeindruckend inszeniert.
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