. . . drin im Woid
Grenzlandwinter
Skurrile Figuren formt der Winter ... eine Gestalt wie ein Dackel ... (Vergrößern durch Anklicken!)
Dezember 2005. Zwischen Osser und Zwercheck unterwegs - Mit einer Fotostrecke
Seit gestern schneit es unablässig, - nichts hält mich an solchen Tagen zu Hause, ich muss einfach auf irgendeinen Berg steigen! Der Grenzkamm ist immer eine Herausforderung. Frühmorgens erreiche ich den Parkplatz in Lohberg.
Durch tiefen Schnee ackere ich hinein in die Parkbucht. Sämtliche Traktoren und Unimogs der Gemeinde sind unterwegs, es wird geschaufelt und gekehrt auf Teufel komm raus, um am Ende des Gehsteigs wieder von vorne anzufangen. Freundlich sind sie trotzdem, die Menschen im Dorf, erwidern mit einem verschmitzten Lächeln und Kopfschütteln meine morgendlichen Grüße. Dicke Flocken schaukeln aus dem grauen undurchdringlichen Himmel, die beiden Ossergipfel irgendwo dort verborgen. Ich tauche unter im tief verschneiten Winterwald. Anfangs ist der Wanderweg noch gut erkennbar. Ich komme flott voran, doch mit jedem gewonnenen Höhenmeter nimmt die Schneehöhe zu, auch spürbar kälter wird es, je höher ich steige. Der Schnee wird flaumiger, ich sinke tiefer ein, zudem verschwindet die Markierung unter einer an den Stämmen klebenden dicken Eiskruste bald vollends. Nichts rührt sich im Wald, ich bin eingeschlossen von Schnee, Wolken und Nebel und dieser eigenartigen, uns fremden winterlichen Einsamkeit, die an solchen Tagen sich über die Berghänge und Gipfel drückt. Äste hängen tief herunter, tragen diese schwere Schneelast, durch die sachteste Berührung entledigen sie sich ihrer Last und peitschen schnellend durch die Luft. Den einen oder anderen schmerzhaften Schmiss und blutigen Kratzer habe ich noch gut in Erinnerung!
Wir kennen sie nicht mehr diese Winter, die gefürchtet waren. Einödhöfe waren über Wochen nicht zu erreichen, Wege mussten mit den Händen freigeschaufelt werden, einsam und abgeschieden wurde gelebt, gearbeitet, gelitten und gestorben. Jetzt, hier heroben, bekomme ich ein klein wenig Ahnung davon, kann mir mit einiger Fantasie vorstellen und in Gedanken ausmalen, wie hart und unbarmherzig das Leben sein konnte.
Schnee rutscht von einem Ast, weckt mich aus tiefen Gedanken und holt mich zurück in den schweißtreibenden Aufstieg, habe den eigentlichen Wanderweg längst verloren. Ich gehe nur noch bergauf, halte mich etwas rechts und hoffe die Grenze bald zu erreichen. Knorriger wird der Bergwald, uriger die Fichten, dicht beastet. Düster ist es, Wind kommt auf, leise knacken Äste, der Hang wird noch etwas steiler. In kurzen Windungen stapfe ich dahin, schaue nicht mehr hinauf, habe im Moment mit mir selbst zu tun, wieder rutsche ich ein eben gewonnenes Stück Berg hinab!
Ich muss da hinauf – oder umkehren! Um 14 Uhr werde ich am Scheibensattel erwartet!
Endlich der Wald lichtet sich, die schmale Grenzschneise liegt vor mir, die blau-weiße Grenzmarkierung ist gut zu erkennen. Ich bin irgendwo unterm Osser. Es geht ein wenig bergab der Grenze entlang zum Zwercheck, noch ein weiter Weg. Im Moment versuche ich etwas zu verschnaufen. Rechts der Grenze taucht bald der Sesselplatz auf, heute stapfe ich fast achtlos daran vorbei. Wie oft bin ich schon hier gesessen in der Sonne und habe den Ausblick hinüber zum Arber genossen? Heute erkenne ich kaum den Waldrand gegenüber. Vereinsamt stockt die kleine Grenzerhütte am oberen Rand des Schachtens vor sich hin, hat ihre eigentliche Bedeutung verloren.
Bei manchen Schritten sinke ich tief ein. Der Aufstieg hat viel Kraft gekostet, das merke ich jetzt: Die Beine werden schwer, ich werde mir ein geeignetes Plätzchen suchen und etwas rasten. Es schneit unaufhörlich, feiner flockiger Schnee bedeckt alles! Ich drücke mich in einen niedrigen Fichtenschlag, finde etwas Deckung vor Wind und Schnee und lasse mich auf einem Baumstumpf nieder. Bist du verrückt, - alleine hier zu sein! Es tut gut zu sitzen, die Überzieh-Handschuhe stecke ich auf die Stöcke und trinke einen Becher Tee. Meine verschwitzten Sachen ziehe ich aus, habe alles dabei zum Wechseln. Ganz schön kalt, brrr! Der Wind zieht durch die Stämmchen, es ist eiskalt, meine Jacke, die nur zwei Minuten an einem Ast hing, ist in der kurzen Zeit an der feuchten Rückenpartie brettelhart gefroren. Es ist mir einfach zu kalt noch länger zu bleiben, ich muss weiter, mich bewegen. Mein Wurstbrot schiebe ich in die Tasche, ich werde es beim Gehen essen. Eine kleine Meise plustert sich zeternd auf einem Ast, ein bisschen Brot lasse ich hier. Zwischenzeitlich sind meine Handschuhe auf den Stöcken mit gebeugten Fingern festgefroren, es knackst beim Hineinschlüpfen, ein Paar Handwärmer tun gut und tauen die eiskalten Finger wieder auf. Es ist so still, höre nur mich schnaufen, kann die Flocken fallen hören, die wie große Bettfedern vom Himmel schaukeln. Alles bedeckt der Schnee, keine Spuren finden sich, nicht viel kann hier heroben überleben. Ungute Gedanken sausen durch meinen Kopf: Was wäre, wenn…? Alles Mögliche könnte passieren! Wäre es nur die Bindung der Schneeschuhe! Bei dieser Schneehöhe wäre es nur unter größter Anstrengung möglich vorwärts zu kommen. Kabelbinder habe ich für den Notfall immer im Rucksack. Ein Handy habe ich auch dabei. Ja, da fällt mir ein, ich könnte mich mal melden daheim. Nur das Zeichen des Akkus flackert behäbig: Das war es dann mit Telefonieren. Allein bin ich also und könnte nichts und niemanden erreichen! Dieses Sauding packe ich ins Innerste, um es möglichst schnell aufzuwärmen!
Was soll es! Ich habe mich gut erholt, den steilsten Aufstieg habe ich hinter mir, was jetzt kommt ist nur zum Genießen, nicht zum Grübeln! Den Winterbergwald in seiner schönsten Form erobere ich, er verführt mich, ich bin ihm verfallen und vergesse im Staunen alle Zeit und auch die Strapaze des Aufstiegs. Schön ist es hier, so einen tief verschneiten Wald habe ich noch nie gesehen. Die kleinen Fichten sind dick vermummt, starr stehen sie in der eiskalten Landschaft. Dort, zwischen den licht stehenden Stämmen, huscht eine Gestalt, sieht aus wie ein Dackel, ein Eisdackel, ein gebogener Ast verbirgt sich unter der eisigen Kruste. Skurrile Skulpturen formt der Winter, zierliche Ornamente finden sich an Rinden und Ästen, bei aller Schönheit, das Leben hier ist nur etwas für Überlebenskünstler. Dass aus dieser Schneewüste in einigen Monaten wieder grüner, blühender, von Zwitschern und reger Freude erfüllter Wald wird, ist schon ein Wunder, das uns die Natur schenkt.
Die Höhe 1228 ist nur ein weißer Hügel, der in grauen Wolken steckt. Hier formt der Wind Steilwände, kleine Gipfel und Mulden. Nichts rührt sich, keine Menschenseele ist unterwegs. Wenig wissen wir von unseren Bergen, wir lernen sie nur unter Sonne und blauem Himmel kennen. An die Grenze zu gehen, im wahrsten Sinne des Wortes, dabei eigene Grenzen erfahren, ist ein Erlebnis, von dem ich noch lange zehren werde, ein Abenteuer von ganz besonderer Art. Wer hat seine Heimat schon derart erlebt? Der Schnee ist jetzt wie gebacken, ich komme gut voran, sinnierend und staunend über die Großartigkeit aber auch über diese Macht des Winters rücke ich dem Zwercheck näher. Alleinsein, dahin zu ziehen, den Schnee, die Kälte fühlen, bin mit der Erde allein, wir kommen ganz gut zurecht miteinander!
Der letzte längere, steilere Aufstieg steht bevor, langsam bohrt sich meine Spur durch den tiefen Schnee. Der Wind nimmt kräftig zu, Böen, die Pulverschneewolken vor sich hertreiben und weiße Fahnen um die Stämme ziehen, lassen auch mächtige Bäume knarren und knacken. Eis und Äste fallen aus ihren Kronen, eine Körperseite von mir ist mit Eis und Schnee bedeckt, Eisnadeln stechen unangenehm in die Wange. Wetterseite, wie eine alte verschrumpelte Bergkiefer sehe ich aus. So ganz wohl ist mir mit einem Mal nicht mehr: Das ist kein normaler Wind mehr, die Wipfel peitschen durcheinander. Ich muss einen schmalen Kahlschlag überqueren, hier kann der Wind wie in einem Kamin vom Tal kommend dem Berghang folgend nach oben fauchen. Er heult und fegt über den Kamm hinweg, ein Pfauchen und Zischen umgibt mich. Es gibt jene Himmelsmacht, vor der wir unbeschreiblichen Respekt haben. Ich stemme mich dagegen und habe Mühe, nicht weggedrückt zu werden. Vor mir erscheint im Nebelwabern und Schneegestöber ein eigenartiges Gewächs: Es ist ein kleiner Baum, der aussieht wie ein Pinguin. Der Wind hat den langen Schnabel geformt, alles passt, nur der Frack ist weiß, eine lustige Gestalt. Ich versuche mich ganz klein zu machen, noch wenige Meter und ich erreiche den schützenden, niedrigen Fichtenbestand. 1333 m hoch ist das Zwercheck, die letzten Höhenmeter zum unscheinbaren Gipfel haben es in sich. Der Schnee hat an Höhe zugelegt, der Wind wieder etwas nachgelassen. Einiges an Wolken hat sich verzogen, der Himmel meint es gut mit mir. Etwas aufregend waren die letzten Minuten, mein Herz klopft so laut, dass ich es hören kann. Die Grenze ist nicht mehr zu erkennen, ihren Verlauf finde ich auch ohne Markierung. Immer bergauf den Grat entlang, bis unter einer Fichtengruppe ein Schild mit der Aufschrift „Landesgrenze“ aus dem Schnee ragt, das Zwercheckschild!
Rechts drüben, wenige Meter entfernt, liegt der felsige Gipfel mit dem zierlichen Kreuz. Ich habe es geschafft! Kalt oder nicht, jetzt ist es schon egal, ich bleibe ein wenig sitzen, trinke meinen letzten Tee. So einen Wintertag werde ich so schnell nicht wieder erleben! Bei allem Mut, mir solche Touren zuzutrauen, bei aller Freude solche Stunden erleben zu können, muss ich zugeben, dass ich sehr wohl gehörigen Respekt habe vor der Natur und ihrer Gewalt. Die alles durchdringende Kälte, der abermals stetig zulegende, beißende Wind vertreiben mich vom wenig geschützten Felsen und schicken mich wieder auf den Grenzweg. Ruhig stapfe ich dahin. Ein gespenstisches Raunen lässt mich aufhorchen, starr stehen die Fichten wie weiße Mumien entlang der Grenze, der Wind faucht diese seltsamen Töne und plötzlich schaue ich in ein Gesicht, in ein Schneegesicht! Wie ein kleiner grinsender Gnom mit Kulleraugen kauert der mystische Wintergeist im meterhohen Schnee. Einbildung? Vielleicht, mir war auf jeden Fall im Moment so, als wollte sich der Berg einfach verabschieden, als steckte im Augenblick in jedem noch so stummen Baum eine winzige Seele, die sich auf wundersame Weise bemerkbar machte.
Es gab so etwas wie eine Verbindung, eine innige Beziehung, die in den letzten Stunden gewachsen war. Wissen wir überhaupt etwas über Himmel und Erde und über die Seele, besitzt nicht alles Lebende eine Seele, auch der Baum neben mir? Wir sehen sie nicht, nicht greifbar und doch fühlbar, es gibt etwas weitaus Größeres, Allumfassenderes, etwas, das die Fäden zieht, das Feuer entfacht, die Schritte lenkt, das Leben schenkt, all diese Dinge ordnet und irgendwann den Zeiger stillstehen lässt.
Die Zeit und die Kälte vergessend stapfe ich kreuz und quer herum, lehne mich an die mächtigen Stämme, horche hinein in ihre vereisten Kronen, höre das Knacken und Heulen. Sie nehmen mich bei sich auf, lassen mich hier sein. Es ist diese eine Erde, für die wir Sorge tragen. Diese Botschaft nehme ich mit hinunter zum Scheibensattel, wo meine Kinder schon auf mich warten. Ich werde ihnen erzählen, ich werde ihnen diese verletzliche Welt näherbringen. Sie werden mich verstehen, besser als manch Großer.
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