Bayerische Geschichte
Leopoldsreut: Von langen und entbehrungsreichen Wintern
Das oft tagelange Schneeräumen forderte den Einsatz und den Zusammenhalt der ganzen Dorfgemeinschaft. (Foto:
http://www.kulturlandschaftsmuseum.de/)
Vor über 50 Jahren verließen die letzten Bewohner das kleine Dorf Leopoldsreut
Enge Straßen, schneidige Kurven. Links und rechts der Straße ist nur Wald zu sehen - Bäume, Farne und Gräser, hin und wieder wilde Brombeersträucher. Die gewaltigen Buchen türmen sich auf. Sonnenstrahlen blitzen durch die dichten Baumkronen. Die geteerte Straße endet jäh. Von nun an führt ein Schotterweg durch den Wald. Jetzt geht es nur noch im Schritttempo voran. Schlaglöcher ruckeln das Auto unsanft hin und her. Schon nach ein paar Metern kann man es sehen, inmitten hoher Gräser und Sträucher ragt es hervor - das längst vergessene Ortsschild von Leopoldsreut. Es ist vergilbt und auch die Buchstaben haben ihr tiefes Schwarz verloren, gleichen nach rund 50 Jahren einem hellen Grau. Ein erster Besuch im Herbst. Kühle Luft. Es riecht nach Bäumen und Gräsern. In der Ferne rauscht das Wasser einer Quelle. Keine Spur von winterlichen Schneemassen und weißer Enge. Im Gegenteil, es wirkt idyllisch. Heute ist von dem Dorf nicht mehr viel übrig, nur das alte Schulhaus und die kleine Kirche Sankt Nepomuk stehen noch.
Über ein halbes Jahrhundert ist es her, dass die letzten Leopoldsreuter ihr Dorf verlassen haben. Die 85-jährige Stilla Moritz wurde in Leopoldsreut geboren. Heute wohnt sie nicht weit entfernt in Herzogsreut (Kreis Freyung-Grafenau). Stillas Eltern, Therese und Ludwig Stadelbauer, waren die letzten Bewohner, die das Dorf schweren Herzens zurückließen. Die 85-Jährige kommt gerne an den Ort ihrer Kindheit zurück und schwelgt in Erinnerungen. Nun hat das Erholungs- und Infozentrum, wo Forstminister Brunner unlängst eine Besucher-Info eingeweiht hatte, eine neue Bestimmung gefunden und wird von vielen Wanderern aufgesucht.
"Wir waren zufrieden, wir haben nichts anderes gekannt", sagt die 85-Jährige. Leopoldsreut, im Volksmund auch "Sandhäuser" genannt, war auf 1140 Metern Höhe das höchst gelegene Dorf Deutschlands. Es bestand aus 21 Häusern, zuletzt waren es nur mehr zehn, erinnert sich Stilla Moritz. Als sie das alte Schulhaus erblickt, schlägt sie die Hände vorm Gesicht zusammen und hält inne. "Dieses Schulhaus könnte Geschichten erzählen", sagt sie.
Ein Klassenzimmer für acht Schulklassen
Das alte Schulhaus ist ein dunkles Holzhaus. Grüne Fensterläden, weiße Fensterrahmen. Im Erdgeschoss bröckelt der Putz. Lupinen, Gras, Disteln und Brennesseln wuchern rundherum. Im ehemaligen Klassenzimmer steht immer noch der alte Ofen. Braune Kacheln hängen an den Wänden, das Ofenrohr rostet. In den Ecken schweben Spinnweben. Ihren ersten Schultag weiß die Seniorin noch, als wäre es gestern gewesen: "Eine Schultüte mit Süßigkeiten oder gar kleinen Geschenken gab es nicht. Wir hatten lediglich eine Stunde eher aus, als die anderen sieben Klassen." Acht Klassen in einem Raum, heute unvorstellbar, damals war es "das Normalste auf der Welt".
Eine Schachtel Zigaretten für einen Eimer Schnee
Die 85-Jährige entdeckt eines der alten Bücher, das auf einer Schulbank liegt. Vorsichtig pustet sie den Staub weg und atmet den modrigen Büchergeruch ein. Den Titel kann man nicht mehr erkennen, auch der Buchrücken wird nur noch von einzelnen Fäden zusammengehalten. Das Papier ist vergilbt und braun, die alte deutsche Schrift ist verblasst. "Ich bin immer gerne zur Schule gegangen", sagt Stilla Moritz. Einmal habe ihr der Nikolaus ein Buch gebracht, "darüber habe ich mich so gefreut, dass ich es dreimal gelesen habe."
Aber nicht nur der Schulalltag hob sich von anderen Dörfern ab, auch im Winter hatten es die Leopoldsreuter nicht einfach. "Bei uns hat der Winter ja meist acht Monate gedauert. Es war keine Seltenheit, dass auch im Juni noch Schnee lag." An ein Erlebnis erinnert sich die 85-Jährige noch besonders gut: Es war der 26. Juni und immer noch meterhohe Schneewände im Dorf. Leute von Dörfern aus dem Tal, im fünf Kilometer entfernten Bischofsreut, hätten dieses Phänomen nie geglaubt und einem Buben aus Leopoldsreut eine Schachtel Zigaretten versprochen, wenn er einen Eimer Schnee ins Tal bringe. "Das ist mir jetzt ein Rätsel, haben die Leute dann gesagt, und eine Schachtel Zigaretten war damals unglaublich viel wert." Auch die ärztliche Versorgung im Winter war zeitweise schwierig. Die Bewohner waren auf sich gestellt. "Es wurde zwar ein Tunnel für Hebammen und Ärzte gegraben, aber trotzdem haben sie es nicht immer rechtzeitig geschafft." Sie weiß noch genau, wie die Hebamme ihrer Mutter erklärt hat, wie das Abnabeln geht und was sie tun müsse, falls die Hebamme es nicht rechtzeitig schafft. "Wir haben damals alle zusammengeholfen. Eine Geburt war für uns nichts, wovon man als Kind normalerweise geschockt ist."
Die Versorgung durch Ärzte und Hebammen war für die Leopoldsreuter im Winter nicht immer möglich. Meterhohe Schneewände gehörten dabei zum Alltag auf dem Weg in das 1140 Meter hoch gelegene Dorf.
Ein Meter Neuschnee über Nacht
Ein 6. Dezember ist Stilla Moritz ebenfalls noch gut in Erinnerung. Über Nacht hatte es fast einen Meter geschneit. "Im Dezember sind wir grundsätzlich immer über den Balkon oder eine Dachluke ins Freie gelangt, Haustüre oder Fenster konnte man über Monate hinweg einfach nicht aufmachen", erzählt sie. Zur Schule oder in das Nachbardorf im Tal ist man nur mit Skiern gekommen. Auch an fließend Wasser und Strom war in dem abgeschiedenen Dorf nicht zu denken. "Im Winter hat es meistens die Rohre gefroren und wir haben in der Not Schnee gepresst."
Eines der Grundnahrungsmittel in Leopoldsreut waren Kartoffeln. "Obst oder Gemüse gab es so gut wie nie. Ab und zu mal Salat oder Sellerie. Das war dann aber was Besonderes." Auch Weihnachten war jedes Jahr etwas Außergewöhnliches: "Vater hat geschlachtet und das Fleisch dann eingesurt und geräuchert." So gut habe es ihr bis heute nirgends geschmeckt. "Der Speck war immer so dick", sagt sie und zeigt mit den Fingern etwa fünf Zentimeter. "Damals war der Speck auch noch nicht so fett wie heute."
Vater starb an "Zeitlang" nach Leopoldsreut
Da die Wirtschaftswunder der 50er-und 60er-Jahre aber nicht bis nach Leopoldsreut vordrangen, wurde das Dorf mehr und mehr zu einer Waldarbeitersiedlung. Die schwer zu bearbeitende Landwirtschaft, der lange Winter und die Abgelegenheit des Ortes haben die Menschen immer wieder veranlasst in bessere Gegenden abzuwandern, in Gegenden, die an der florierenden Wirtschaft teilhatten. Die Schule wurde 1955 aufgelöst und die verbleibenden fünf Kinder mussten den beschwerlichen Schulweg von fünf Kilometern ins nächste Dorf, nach Bischofsreut, auf sich nehmen. Drei Jahre später lebten nur noch 46 Leute ,in Leopoldsreut.
Als 1963 der Forst verstaatlicht wurde, mussten auch die letzten Bewohner ihre Häuser räumen. "Die Häuser wurden damals einfach niedergerissen. Es wurde aufgeforstet. Meine Eltern sind in die nächste Stadt gezogen, nach Freyung", erzählt die 85-Jährige. Wohlgefühlt habe sich ihr Vater dort aber nicht. "Er hatte keine Schmerzen und war nicht krank. Er ist einfach immer schwächer geworden. Er hat gesagt, er hört die Geräusche des Waldes nicht mehr, das Quellwasser nicht mehr rauschen." "Zeitlang " nennt man es nicht nur in Leopoldsreut, was ihren Vater das Leben gekostet hat. Tränen steigen Stilla Moritz noch heute in die Augen, als sie die letzten Worte ihres Vaters sagt: "Komm, Mutter, gehen wir heim."
Quelle: Kathrin Madl, in: SR-Tagblatt Weihnachten 2012, Seite 10
>>> Textbeitrag des BR - Land und Leute [Botschaft eines verlassenen Dorfes]
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