Begegnung mit Menschen (5). Gustav Kelber - der unbekannte Dichter

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Dr. Gustav Kelber an seinem Arbeitsplatz (1961) - Vergrößern durch Anklicken!

Der Richter und Dichter Gustav Kelber verbrachte 31 Jahre seines Lebens in Mitterfels

Das „Mitterfelser Magazin” übernimmt diese von Dr. Rupert Sigl verfasste Hommage (Straubinger Tagblatt, 15. Juli 1971) mit Erlaubnis des Autors, weil selbst vielen Mitterfelsern Dr. Gustav Kelber und sein Werk unbekannt sind.

 

Wir haben uns erlaubt, den Artikel in Abschnitte zu gliedern und ein Gedicht Paula Kelbers, der Gattin Dr. Gustav Kelbers, abzudrucken. Die Fotos wurden uns vom Enkel Dr. Kelbers, Herrn Ernst Kelber, zur Verfügung gestellt. (Redaktion Mitterfelser Magazin – veröffentlicht in: MM 7/2001)

 

. . der große Unbekannte

„Alle Lieder des Jahres begleiteten ihn auf dem Wege zum Meere, und sommernächtlich wurde er selber zum Lied.”

Der Bayerische Wald hat schon viele Sänger geboren, gefunden, verloren. Johannes Linke und Siegfried von Vegesack, der eine lebte vor, der andere seit dem Ersten Weltkrieg im Walde drinnen; der Bleibendes stiftende Hans Carossa auf Goethes Spur und seiner unsterblich geliebten Freundin, Emmerenz Meier; die drei mit dem Vornamen Max: Matheis, Peinkofer und Maximilian Waldschmidt; wie Franz Schrönghamer-Heimdal, Dichter nach dem Herzen des Volkes; der getreue Schilderer des „Hochwaldes”, Adalbert Stifter, und sein stürmischer Landsmann Hans Watzlik; der geniale, viel zu sehr verkannte Georg Britting, der Meister sprachlicher Zucht aus der Stadt am Regen, in der einst das Wessobrunner Gebet und das Rolandslied aufgezeichnet wurden. Mit den Besten kann sich messen der heimlichste Sänger, der große Unbekannte, verloren schon noch ehe er gefunden wurde. Doch lassen wir uns zuerst seinen Künstlerpass vorweisen. Könnte das Gedicht nicht von Hans Carossa, von Georg Britting sein? Welcher Dichter kann eine so schlichte, klare und bildersatte Sprache vorweisen wie er, der große Unbekannte?

              In der Kirche

Das ist so schlichte, echte Poesie, wie sie nur den Meistern von hohen Gnaden und Graden eignet. Nicht eine Silbe, kein Wort ist nur gesagt, sondern alles in Bild geprägt, mit Sinn beladen. Der Dichter, ein Richter, der nach seinem Gewissen im Namen des Volkes sein Urteil über menschliches Tun fällt, tritt nach einem schweren Tag mit dem Unfrieden seiner Sorgen und als Richter seines Amtes zu Unrecht und zum Schaden des Volkes enthoben - um hier schon etwas von seiner Biographie einzuflechten -, zum Stummsein verurteilt, in die Kirche von Mitterfels, und begegnet hier dem Frieden, den ihm sein treues richterliches Gewissen zwar bestätigt, der ihn aber in den großen Konflikt mit seiner Zeit stürzt gegen seinen Willen, von der Macht geschlagen und „erschlagen” in der Seele, „O, wie wardst du müde, Herz, so müde!” Die Ampel, selbst in Nacht versunken, gibt das Motiv an. Auch der Dichter und Richter ist in die Nacht versunken. Sie spendet tröstend ihren roten Funken. In seinem Gewissen tröstet ihn in dieser Nacht der Seele ein anderes Licht. „Zu sehr hat mich die Pflicht mißbraucht”, klagt der Richter in einem anderen Gedicht. Und er erlebt in der dunklen Kirche, wie unmittelbar Gott zum Gewissen ist: Er wandelt herab des Chores Stufen und beschreitet die Stille wie einen Teppich und kommt ihm, dem Dichter und Richter entgegen. Er spricht mit seinem Gott . . .

Kein Bild ist in diesem großartigen, klangreinen, klaren Gedicht abgenutzt, alle und jeder Vergleich ist seine ureigenste Originalschöpfung: Ungestört vom einzigen Verweiler huscht die Schwalbe durch den Wald der Pfeiler! Oder die samtene Decke der Schatten über seiner Bank, die Doppelsonne der zwei Kerzen, die vor der Madonna beten. Alles ist Frieden, Stille, Harmonie selbst im Dunkel. In der Orgel schlafen alle hohen Lobgesänge. Durch diese Stille wandelt Gott herab des Chores Stufen zu dem stillen, müden, abgekämpften, zermürbten Beter, der dem Ewigen begegnet. „Stille wächst, des Gottes tiefste Sprache”, wie der große Unbekannte im Sommer 1941, ein Jahr bevor er auf des Führers Befehl wegen seiner richterlichen Unbestechlichkeit abgesetzt wurde, weil er nach Recht und Gerechtigkeit, gegen Gewalt und Terror richtete, sein Amt unbescholten verwaltete - in der Klosterkirche von Dießen, dem großen Meisterwerk Johann Michael Fischers, dichtet.

 

„Zu sehr hat mich die Pflicht mißbraucht”

Damals trug er ungemein schwer an der Last seines unparteiischen, wahrheitsliebenden Gewissens, das sich nicht beugen wollte und konnte und auch nicht beugen ließ. Ich hoffe, dass es mit Hilfe einiger Freunde in Mitterfels gelingt, gerade diesen Kampf um die Ehre des höchsten Amtes im Staate, durch einige Fakten aus den Gerichtsakten noch zu klären, an Hand von Beispielen veranschaulichen zu können.

„Bleib steinern, Herz und unbewegt, Verschlossner nur und ungesellter”, spricht er sich selber Mut zu in seiner ausweglosen Situation. In dieser Verzweiflung sehnt er sich, der Dichter und Richter nach dem Tode als Erlöser: „Und dann vergeßt, daß ich ein H e r z besaß . . .”

Er bittet nicht nur um den baldigen Tod, sondern auch um einen schnellen Tod:

Er spürt in sich, daß ihm „der Tod die erste Zeile ins Gesicht geschrieben . . .”

So sehr ist und war der Gewissenstreue in jener Zeit von Deutschlands tiefster Erniedrigung mit den Gewaltigen zerstritten, mit denen er sich in seiner Dichtung wie in einem heimlichen Tagebuch auseinandersetzt, damit er nicht mit ihnen das gleiche Brot des Unrechts esse, dass er sich einen Grabstein wünscht, der ihn ganz von diesem Unrecht, von Erde und Ende trennt, damit er ganz ausgelöscht und ungestört von dieser Zeit und ihren Zielen in seinem Grabe ruhen könne:

Der Leser verzeihe mir, dass ich lieber den Dichter und Richter seiner Zeit und Zeitgenossen zu Worte kommen lasse. Sie selber haben ein Anrecht, die Stimme des heimlichen und unbekannten Poeten zu hören, da von seinen unzähligen, hunderten klangreinen, wirklich klassischen Versen, soweit ich bislang feststellen konnte, nur ein einziges Gedicht, 1939, und dieses unter dem Decknamen Ernst Mattern (in Velhagen & Klasings Monatsheften, 44. Jhrg. Heft 8) veröffentlicht wurde. Sie sollen sich selbst ein Urteil bilden können über die Qualität dieser Verse. Dann wird es Ihnen nicht schwer fallen, diesen heimlichen Dichter zu den besten Poeten jener Jahre zu zählen. Er wünscht sich nicht nur einen Grabstein, der ihn ganz dem anderen, ewigen Reiche zuteilt, sondern vergleicht sich sogar mit einem Stein, der gleichgültig gegen altgewohnte Plage, gewappnet gegen Sturz und Stoß ist und sich doch nach den Brüdern sehnt:

Sein Glück im Unglück ist es, dass er die „lacrimae rerum” in Poesie zu kleiden vermag. Ihm geht es, dem Unbekannten wie dem Dichter Platen, von dem er singt und sagt:

 

Wer war Dr. Gustav Kelber?

Wer ist dieser große Unbekannte, dem der Tod in jener Auseinandersetzung mit den Gewaltigen, deren Recht er sprechen sollte, „die erste Zeile ins Gesicht geschrieben” und der doch ein Alter von 80 Jahren erreichte?

Am 5. Dezember 1961 war in der „Bogener Zeitung” zu lesen: „Bis vor wenigen Wochen konnte man, das Wetter mochte wie immer sein, einen in sich gekehrten, aber trotz seiner 80 Lebensjahre noch immer stattlichen Mann auf einsamen Spaziergängen durch die weitere Umgebung von Mitterfels beobachten, dem nur noch Gottes freie Natur etwas zu sagen schien, nicht aber die Menschen, die er in ihrer oft so unergründlichen Abgründigkeit kennen lernen musste und die ihn immer wieder einmal zutiefst enttäuschten. Gestern ist nun Herr Oberamtsrichter i. R. Dr. Gustav Kelber nach einem vorangegangen Schlaganfall im Krankenhaus Bogen gestorben...”

Am 24. Oktober 1881 in München als Sohn des damals höchsten evangelischen Würdenträgers in Bayern, Dr. Julius Ritter von Kelber geboren, fühlte er sich schon in seiner Jugend, im kunstbeflissenen Elternhaus, während seiner Studien in München und Erlangen zu musischen Menschen und musischen Bereichen hingezogen und hatte engen Kontakt zu einer evangelischen Künstlergruppe, wo man Musik, Dichtung und Architektur genauso wie Plastik und Malerei liebte und pflegte. Hier liegt wohl schon das Fundament für seine Weltweite, Aufgeschlos­senheit. Wir haben ihn unseren Lesern in seiner tiefsten Schmach und Erniedrigung mit dem Gedicht „In der Kirche” vorgestellt. Seine schönsten Gedichte sind jedoch klassischen Themen gewidmet, wie allein schon Titel wie „Tempel in Paestum”, „Und die Sonne Homers”, „Die Brüste der Helena”, „Pan”, „Venus von Botticelli” verraten - und das sind ganze Gedichtsammlungen. Er hat nicht nur den Bayerischen Wald verherrlicht: „Auf dem Hirschenstein”, „Waldtümpel”, Wanderungen geschildert. In Aberhunderten von Versen, in denen er sein für alles Schöne aufgeschlossene Wesen und die Liebe zu Gottes ur­igenster Natur hinausjubelt, vom Staunen ergriffen, besingt er diesen seinen Wald. Musikern „Bruckner”, „Orgelsuite von Reger”, Dichtern, herrlichen Architekturen zuliebe schlägt er seine Lieder, seine Laute, deren zwei neben dem Klavier in seiner Künstlerwohnung hingen. Nationale und religiöse Motive sind ihm so wenig fremd wie Landschaftsbilder, Naturstimmungen, die eben den echten Lyriker kennzeichnen.

Den Ersten Weltkrieg, über den er so erschütternde Verse schrieb, dass wir sie nie mehr vergessen können und dürfen, machte Kelber von Anfang an bis zum bitteren Ende bei einer Nachrichtenabteilung aktiv mit. Schon in seinem Sonett „Weltkrieg” kündigt sich uns sein künftiger Zusammenstoß mit dem Dritten Reich als unausbleiblich an: „Ein Mann ist wer nach Mannsrecht tut”, wie sein Volker rühmt. Der Freund der Dichtung spürt gerade aus diesem Gedicht die expressionistische Stimmung und Sprache:

              Weltkrieg

Aus dem Kontrast zum Morden des Krieges finden wir den Dichter, der auch im Felde sich viele Verse abrang, auf der Spur des Lebens, der Freude („Wer hat sich an den Lippen sattgeküßt, Der Freude tausend Wege ausgegangen?”). Auf diesem Wege stößt er ins Kosmische vor, in das ewige All, das immer noch bestehen wird als des Gottes Schöpfung, wenn die Menschen die Erde zur kahlen Wüste machen und ihr Menschenwerk unter ewigem Eise schläft. Der Tod ritt durch das Land, „aber wir sind ihm entgangen und wir heben den Kopf...”

Was blieb von dem Kriege übrig? Tote, Tränen und „am Sonntag nach dem Hochamt früh bereden’s manchmal die Alten . . .”

Die Jahre des sogenannten „Wiederaufbaus” erlebte Dr. jur. Gustav Kelber als sehr rasch bewährter Richter in Straubing, wo er im Regensburger Haus wohnte und ein enger Freund des späteren Oberbürgermeisters Dr. Otto Höchtl war, mit dem er viel musizierte und wo er im Freundeskreis immer wieder gedrängt wurde, seine Gedichte vorzutragen. Wir fühlen uns heute in unserem so fraglichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg versetzt und fühlen mit ihm die gleiche Sorge, dass die Menschen, vom Terror des Krieges erlöst, nichts so arg missbrauchen wie ihre Freiheit.

 

Er roch den Qualm des nächsten Scheiterhaufens

Er ahnt fünf Jahre nach dem Kriege, dass die Dächer schon wieder brennen und an den Kreuzen die Erlöser hängen:

              Wiederaufbau

Dass Kelber schon 1924 („Fünf Jahre sah ich zu”) den Qualm der Scheiterhaufen roch, indes man die wirklichen Erlöser ans Kreuz schlug, während sich alle am Fresstrog stießen - ist es heute anders? - „Wer will den steifen Frontsoldat noch kennen in dieser Heldenzeit der Zungenriesen?”, das zeugt von der Klarsicht des Richters in dem Dichter und des Dichters in dem Richter, der seinem Volk im vorhinein das Urteil spricht. Kelber erkannte die Zeichen der Zeit und musste den Wächter nicht fragen, wie spät es schon sei.

Am 1. Januar 1930 wurde er zum Oberamtsrichter in Mitterfels ernannt, wohin ihn seine Liebe zum Bayerischen Wald zog, dem er ebenso wie seinen Menschen seine Gedichte widmete, sogar solche in Mundart. Seine außerordentliche juristische Befähigung hätte ihm leicht einen höheren Aufstieg ermöglicht, aber er glaubte gerade in Mitterfels zu finden, wonach nicht nur sein Pflichteifer, sondern auch sein feiner Kunstsinn und seine Naturliebe verlangten.

 

Gerechtigkeit und Recht . . . aber nicht für ihn

„Gerechtigkeit und Recht waren in seiner Hand auf das Treueste behütet; nichts und niemand konnte ihn beirren, nach Recht und Gewissen zu handeln und zu entscheiden”, sagt ein Freund von ihm, der ihm auch vor zehn Jahren einen ergreifenden Nachruf widmete. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass 1942 die damalige Justizverwaltung an seiner auf Rechtsgrundsätzen aufgebauten und nach richterlichem Gewissen geführten Amtsführung An­stoß nahm. Auf Veranlassung der Kanzlei des Führers wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt, weil seine Rechtssprechung verschiedenen Parteistellen nicht genehm und zu Willens war. Das Mitterfelser Gericht wurde zu einem Zweigstellengericht von Bogen herabgewürdigt. „Diese Maßregelung eines verdienten Beamten hatte Herrn Oberamtsrichter Dr. Kelber den Herzen der Bevölkerung von Mitterfels um ein Vielfaches nähergebracht”, rühmte der Mitterfelser Gemeindebote am 29. November 1949. „Wir wissen Herrn Oberamtsrichter Dr. Kelber nun schon 19 Jahre in unserer Gemeinde und schätzen ihn als Ehrenmann mit einem unbeugsamen Charakter, beseelt von einem tiefen Christentum! Er selbst hat diese entehrende Maßregelung mit würdevollem Schweigen hingenommen und getragen. Seine ganze Haltung als Richter sichert ihm einen Ehrennamen in der Geschichte der deutschen Rechtspflege.”

Jahrelang hatte der Richter seinen Schild gehalten über das Volk, das Recht, das Reich. Jetzt aber hat ihn der Sturm in den Winkel getrieben. „Was mir von allem übrig blieb, ist Schweigen und Verachten”, wie es in „Volkers Burglied” heißt:Es geht mit anderen Zungen

In einem anderen Liede sieht er sich bei diesem Nibelungenzuge, dieser nazistischen Hunnenfahrt als „Siegfried, den Speer im Rücken”, in einem weiteren vergleicht er sich mit dem Geistlichen, dem „Kuttner”, den der grimme Hagen in die Donau warf, um ihn zu ertränken, der aber gerade dadurch dem Tode aller entrann.

In diesen Jahren des Unrechts, der Nacht- und Nebelaktionen hatte Dr. Kelber all seine Schriften und Unterlagen ständig fertig in einem Koffer verpackt und tritt er wie Herr Skule zu seinem letzten Lied an. Wie dieser Barde die Liebe der Königin hatte Dr. Kelber das Herz, die Liebe des Volkes begehrt und wird nun von dem König, zu seinem letzten Lied verurteilt.

Die Furcht ging wieder im Lande um - Doch es war nicht Skules letztes Lied.

 

. . . wieder in seine Ehre eingesetzt

1946 wurde Dr. Kelber wieder in seine Ehre, in sein Amt eingesetzt, auf Vorschlag des damaligen Landrats Albert Dietl. Aber nur ein Teil des angetanen Unrechts konnte damit wieder gut gemacht werden. Mit diesem Mai 1946 brach für ihn ein zweiter Frühling an. Man spürt ihn aus den Versen selber:

              Frühling

Hier finde ich den ergreifendsten, den charakteristischsten Vers unter den vielen tausenden, die mir seine Frau zur Veröffentlichung zukommen ließ: „Tiefer laß Dich vollenden!” Für ihn ist alles Schicksal ein Reifen, ein Aufschwingen zur Fülle des Seins. Ihm ist jetzt wie in dem Gedicht, das er ebenfalls in Dießen schrieb:

              Nach dem Hochamt

Selbst rehabilitiert hat sich Dr. Kelber um so mehr für die Wiedererlangung der früheren Zuständigkeiten des historischen Amtsgerichts Mitterfels trotz des Widerstandes der amerikanischen Militärregierung mit Nachdruck und schließlich auch mit Erfolg eingesetzt. Am 1. November, um die kurze Biographie abzuschließen, trat der Vorsteher des Amtsgerichtes im Alter von 68 Jahren in den Ruhestand, nicht aber der Dichter. „Alles, was Dr. Kelber, der Stille und Einsame, in seinen Mußestunden schrieb,” gesteht sein Freund Leitelt, „es greift immer wieder in das wirkliche, gelebte und erlebte Leben hinein, zeichnet den Menschen in seiner oft allzu menschlichen Absonderlichkeit genauso fein analysiert wie etwa eine Blume am Feldrain oder das melancholisch stimmende Fallen eines Buchenblattes im Spätherbst.”

 

. . . er dichtete nur für sich

Für jeden Freund genuiner Poesie, mehr noch für den Literaturkritiker, der plötzlich mit einem so umfangreichen wie vollendeten Lebenswerk konfrontiert wird, muss es ein unerklärliches Rätsel bleiben (das uns seine Freunde und Verwandten erklären müssten), warum dieser treffsichere Poet und klare Meister der Sprache nichts veröffentlichte. Kelber hat wohl 1929 ein 74 Seiten starkes Bändchen „Sonette” und 1932 ein Bändchen „Gedichte” von 112 Seiten als Manuskript, er hat 1946 eine herrliche Mappe mit 32 Blättern auf Pergament „Alles in Wendung” in einer Auflage von 35 Stück drucken lassen, er war aber schwer vergrämt, als ich im Straubinger Kalender sein Mundartgedicht „Die Leich” publizierte - und zwar gegen seinen Willen, wie ich nachträglich erfuhr. Schon 1929 heißt es im ersten „Sonett”, so der Titel des Gedichtes:

Im gleichen Band von 1929 lesen wir im Sonett „Ikarus”, mit dem sich der Dichter in seinem Höhenflug vergleicht:

Heute, da unsere Litaratur durch eine schier endlose Wüste wandert, da Sex und Crime den Markt beherrschen und auch die Verlage nur nach Profit jagen, ist es kein Wunder, dass sich große Dichtung schwer durchsetzt, weil die Masse lieber sich mit den „Spielen” von Gwen Davis begeilen lässt. Heute wäre es ein Segen für die Literatur, wenn vieles nicht gedruckt würde, aber damals . . .? Der Hauptgrund, warum Dr. Kelber nur für sich dichtete, dürfte in seiner ganz persönlichen Auffassung liegen. Ich wage es heute noch nicht, diese Begründung zu formulieren. Jedenfalls ist er dadurch der unbekannte Dichter des Bayerischen Waldes geblieben, den es heute neu zu entdecken gilt und den wir schon lange vorher verloren, ehe wir ihn gefunden hatten.

Obwohl Dr. Kelber in München geboren, in seiner Geisteshaltung ein ungewöhnlich gebildeter Weltmann und obgleich er mit dem berühmten Balladendichter Börries Freiherrn von Münchhausen (†1945), der wie Kelber Jurist und Offizier im Ersten Weltkrieg gewesen war, in ständigem Briefwechsel stand, dessen Anerkennung fand, ja einmal sogar den verhinderten Dichter bei einer Dichterlesung in Straubing vertreten hatte, und obgleich unser Richter und Dichter weit mehr klassische Themen gestaltet hat, ist er doch in einem tieferen Sinne der Dich­ter des Bayerischen Waldes. Er hat nicht bloß 31 Jahre im Vorwald gelebt. Sein für alles Schöne offenes Wesen und seine Liebe zu Gottes ureigenster Natur trieb den Ein­samen und Stillen in den „Wald”, wo er täglich seine und ihre Wunder erlebte, bestaunte, besang:

              Herbst

Oder einige Verse aus dem Gedicht „Herbstzeitlose”:

Ich kenne in der modernen Dichtung wenige, die so wie Dr. Kelber, der Richter, entehrt und gemaßregelt, von den Menschen enttäuscht, in der unverdorbenen Natur, in Gottes Schöpfung, deren Schönheit und durch sie den Schöpfer erlebten. Gerade dieser Enttäuschung mit den Menschen und seiner Verzweiflung verdanken wir heute diese unvergänglichen Natur- und Stimmungsbilder, die keineswegs nur übliche, die oberflächlichen Heimatdichter-Rei­mereien, sondern Poesie vom Range eines Carossa sind. Dass dieses Urteil zutreffend, dafür möge ein Gedicht aus dem „Tempel in Paestum” (Gedruckt 1962) den Beweis liefern:

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Paula Kelber und Dr. Gustav Kelber (1961) - Vergrößern durch Anklicken!

Seinen Lebensabend verbrachte Dr. Kelber mit seiner charmanten Gattin Paula, geb. Fritz, in Mitterfels. Diese zog nach dem Tod des Ehegatten nach Bad Aibling, wo sie sich noch im Alter von 86 Jahren begeisterte für die Dichtungen einer Nelly Sachs, eines Hermann Hesse usw. Auch interessierte sie sich stets noch für die Feuilletons der Zeitungen.

Wir ergänzen Dr. Sigls Hommage an Dr. Gustav Kelber mit einem Gedicht, das Paula Kelber selbst im Jahre 1934 fertigte (Redaktion MM):

              Bayerischer Wald

                                                         Paula Kelber (1934)

Dr. Kelber sprach nie von sich selbst und er litt stark unter dem Verlust seines allzu früh dahingegangenen Sohnes Ernst. Auch nach der Wiederherstellung seiner Richter- und Mannesehre blieb er stumm. Ihm genügte sein Dichten: „Doch mir hast du gegeben, die bunte Welt in Liedern abzuspiegeln.” Er ist wie Odysseus heimgekehrt:

              Heimkehr

Am Montag, 4. Dezember 1961, ist dieser große Unbekannte und unbekannte Große nach einem vorausgegangen Schlaganfall im Krankenhaus Bogen verschieden.

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Ansicht von Mitterfels um 1912 (Foto: Zerle, München - im Besitz von Frau Elisabeth Aumer) - Vergrößern durch Anklicken!