Landarzt in schwierigen Zeiten

sommerfrische 1950

Ansichtskarte Mitterfels 1950, als Dr. Alois Riedl seine Praxis eröffnete (Foto: Eiglsperger - Sammlung: Christl Jakob)

 

Bei gelegentlichen gemütlichen Abenden in feucht-fröhlicher Runde gab ich mir Mühe, auch dieses oder jenes zur Unterhaltung beizutragen, wobei ich natürlich vielfach Begebenheiten, lustige, interessante, aber auch ernste aus meinem langen Praxisleben (1950 - 1990) als Arzt im Vorwald des Bayerischen Waldes zum Besten gab.

Dies führte schließlich dazu, dass man mich drängte, diese oft bemerkenswerten Dinge aufzuschreiben, um sie nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, und damit auch andere sie lesen und sich ein Bild von den Zuständen damals kurz nach dem „Zusammenbruch" machen könnten. Ernsthaft hatte ich das nie geplant, aber - wie es so schön heißt - steter Tropfen höhlt den Stein. Schließlich gab ich dem Drängen nach und fing an, mein Langzeitgedächtnis, mein Erinnerungsvermögen in Gang zu bringen.

In den schwierigen Zeitläuften meiner Jugend mit politischen Umwälzungen und Krieg wäre es vermessen gewesen zu glauben, dass der Weg in meinen späteren Beruf als Arzt geradlinig und problemlos verlaufen würde. Es gab da genug Unwägsamkeiten, Zufälle, viel Glück schon von Anfang an. Zum Beispiel, dass mein verehrter Heimatpfarrer, dem ich vier Jahre als Ministrant gedient hatte, es fertig brachte, mich zum Studium und schließlich zum Abitur zu bringen.

Es war auch seltsam genug, dass man mich bei Kriegsbeginn als Soldat in die Lüneburger Heide schickte, in die Heide, die mir fast schon so vertraut war wie der Bayerwald. Hermann Löns, der Dichter und Schriftsteller, der die Heide so liebevoll geschildert und besungen hatte, die Tierwelt dort, die blühende Heide, die Menschen, die Heidjer genannt wurden und so karg lebten wie die Waldler im Bayerwald, hatte mir die Heide nahegebracht. Seine Heidebücher kannte ich alle und damit seine Streifzüge als Heidejäger. Trotz des militärischen Dienstes hatte ich Gelegenheit genug, die Heide zu durchstreifen, Land und Leute kennen zu lernen, die Heide im Herbst blühen zu sehen und mit den Schäfern über ihre Heidschnuckenherden sprechen zu können.

Seltsamerweise waren die Heidjer nicht gesprächig, wenn ich etwas über Hermann Löns wisssen wollte. Er sei Jäger gewesen, aber auch ein von den Bauern gefürchteter Schürzenjäger, was schließlich dazu führte, dass er sich 1916, als ihm Vaterschaftsprozesse, familiäre Schwierigkeiten, wirtschaftliche Engpässe, Unzufriedenheit in seinem Beruf als Lehrer in Hannover über den Kopf wuchsen, freiwillig zum Fronteinsatz nach Frankreich meldete, wo er auch bald fiel.

Nachdem ich den Heideboden buchstäblich hunderte Male geküsst, denselben auf allen Vieren kilometerweise durchrobbt hatte, dirigierte man mich in die nördliche Heide zum militärischen Einsatz als Funker. Wieder war es wie ein Wunder, als ich als Abiturient zu einer Studentenkompanie zwecks Medizinstudium nach Hamburg abgestellt wurde. Die großen Verluste an Sanitätsoffizieren (Ärzten) in Russland waren der Grund für diese Maßnahmen. Studium, Fronteinsatz in Russland und Polen, furchtbare Bombennächte in Hamburg ... Bald nach Kriegsende konnte ich als fertiger Arzt Hamburg in Richtung Heimat, d. h. Bayerischer Wald, verlassen, ohne meine Familie, die nachkommen sollte, sobald ich in Straubing ein Nest für sie bereitet hätte.

Die Ausbildung in Hamburg und später in Straubing war so umfassend und gründlich gewesen, dass ich mir eine eigene Praxisführung zutraute. Jungärzte konnten damals nur auf dem Lande eine Praxis ausüben. Die älteren Kollegen konnten in den Städten praktizieren, sie sollten durch Konkurrenz von Seiten der jungen Ärzte nicht beunruhigt werden. Meine Frau und unser Sohn Stefan, bereits über ein Jahr alt, waren nachgekommen nach Straubing und hatten sich dort sehr wohl gefühlt; denn in Hamburg hatte es viel Trümmer, Schmutz und Staub gegeben. Es wurde uns Mitterfels im Vorwald als Arztsitz zugewiesen. Das war 1950, ein paar Jahre nach dem Krieg. Da gab es für meine Frau und mich viel vorzubereiten, viel zu bedenken und viel zu organisieren. Für meine Frau als Stadtkind war es schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, nunmehr auf einem Dorf zu leben.
Der Anfang fügte sich allerdings sehr angenehm, ja glücklich. Wir bekamen eine große, schöne Wohnung mit Praxisräumen in einem geistlichen Haus, im Haus des Benefiziaten, damals war das Dr. Leitelt, aus den Sudeten vertrieben. Er nahm uns in das Haus auf, so dass wir hinfort Nachbarn waren.

Der Aufbruch aus Straubing nach Mitterfels erfolgte Ende Juni 1950 mit unserem neuerworbenen, gebrauchten VW-Käfer. Als dieser ausgerechnet auf der Mitte der Schlossbrücke, damals Behelfsbrücke, stehen blieb, sagten wir uns beide: „Das fängt ja gut an." Grund: Benzinmangel, schmaler Geldbeutel damals. Ein Schulkamerad aus der Dorfschule in Haibach war beim Umzug ein treuer Helfer bei allen Schwierigkeiten. Er schob auch den Wagen über die Brücke, ich lenkte, meine Frau genierte sich.

Der geistliche Herr segnete unseren Einzug in die neue Wohnung. Da sagten wir uns gegenseitig: „Das fängt ja wirklich gut an."

Der Glücklichste von uns war bestimmt unser Sprössling, jetzt bereits zwischen 4 und 5 Jahre alt; er explodierte förmlich in dieser großen Freiheit rings um ihn herum, zumal sich ganz schnell ein Freund aus der Nachbarschaft einstellte; sie blieben Freunde und hielten zusammen in allen Lebenslagen. Es war ein großer Vorteil für unsere junge Praxis, dass die ausgewiesenen Flüchtlinge, die in großer Zahl noch in Mitterfels und Umgebung waren, vielfach unsere Praxis aufsuchten, als Nachbarn sozusagen eines ebenfalls aus dem Sudetenland Ausgewiesenen.

Meine Frau verwand die Veränderung zu meinem Leidwesen nur schwer, stand oft am großen Fenster zur Dorfstraße hinaus, mit Tränen in den Augen, schon froh über den Anblick eines Pferde- oder Ochsengespanns, mit Mist oder Heu beladen. - Aber das wurde bald besser. Die Pflichten im Haushalt, in der Praxis - als meine einzige Hilfe, die Erziehung des Kindes, der Telefondienst Tag und Nacht lenkten sie genügend ab. Auch die Mutter und später der Vater tauchten aus Hamburg auf.

Es ist uns ein Herzensbedürfnis, an Dr. Leitelt, den Benefiziaten in Mitterfels, der uns ohne Umstände in das Haus aufnahm und den Aufenthalt von Anfang an so angenehm machte, zu erinnern. Er war geistreich, hoch gebildet, täglich konnten wir zum Ausgleich gute Gespräche führen, die uns wie ihm wohl taten. Er ist leider schon seit mehreren Jahren tot, nachdem er noch mehrere Jahre in Tübingen als Stadtpfarrer wirken konnte, wo wir ihn ein paarmal aufsuchten.

Die Umstände von damals und das Leben, fünf Jahre nur nach dem alles umwälzenden Krieg, vor allem im grenznahen Bayerischen Wald sind für die Menschen von heute fast nicht glaubhaft und nachvollziehbar. Es gab in dem Bereich, den ich als Arzt übersehen konnte, ein wahres Völkergemisch; denn alles drängte in den Raum Bayern. Wer wollte schon im Sowjetsektor oder in Österreich, wo auch die Russen das Sagen hatten, bleiben.
Viele sprachen Deutsch oder radebrechten es, viele konnten nur ihre Muttersprache. Aus Polen, aus Russland waren sie, aus verschiedenen Balkanländern, aus Ungarn, Rumänien. Es war sicher interessant für den Landarzt, aber man benötigte oft viel Geduld. Für diese oft schwergeprüften Menschen war es wichtig, angehört zu werden, sich beim Arzt gut aufgehoben zu fühlen, was uns auch öfters bestätigt wurde.

Es war im 1. oder 2. Jahr hier, da wurde ich nachts so um 1 Uhr nach Gaishausen gerufen zu einem Gehöft, das ich kannte. Meine Frau hatte mich resolut aus dem Schlaf gerüttelt, der Bauer B dort sei angeschossen worden. - Da war auch ein Lichtlein im Fenster, als ich hinkam. Ich fiel buchstäblich mit der Tür ins Haus, konnte jedoch vor einem niedersausenden blitzenden Beil nach rückwärts ausweichen, sehr knapp nur.
„Der Doktor ist's", rief ich noch. Der Landwirt schlotterte, ich vielleicht auch. Das Beil hing ihm wie ein Schwert zur Rechten hinunter. Die Erklärung: Bei ihm war eingebrochen worden, er hatte die Diebe gestört und sie verfolgt (ein Fehler!), sie hatten zurückgeschossen. Anscheinend waren sie dann in Panik geraten und hatten einen Arzt angerufen. Das war ich. Der Bauer lauerte mit dem Beil hinter der Tür im Falle einer Rückkehr der Diebe, stattdessen kam der Doktor.

Meine Frau meinte, so wie der alte Fritz, der Preußenkönig zu sagen pflegte, er brauche Offiziere mit Fortune (Glück): „Du hattest eigentlich immer Fortune. Mit Hilfe deines guten Dorfpfarrers konntest du als einziger nach Straubing zum Studium und zum Abitur kommen. Du hast deine geliebte Heide kennengelernt, bist in Polen und Russland nicht totgeschossen worden wie deine Brüder, konntest Medizin studieren und Arzt werden, hast mit mir und meinen Eltern zusammen drei Nächte das Bombeninferno in Hamburg in einem leichten Keller unseres Hauses unter vier darüber liegenden Stockwerken überlebt, konntest in Hamburg und Straubing eine vorzügliche medizinische Ausbildung absolvieren, eine Familie gründen mit inzwischen drei Personen. Jetzt hast du bereits eine ganz ordentliche Praxis, den nettesten Hausherrn und hast wieder, wie durch ein Wunder, überlebt."
Ich warf ein: „Weil ich in Russland und Polen gelernt hatte, nur mit Geistesgegenwart und Schnelligkeit meine Haut zu retten."

Dieser Vorfall in Gaishausen war ohne Zweifel eine gefährliche Begebenheit gewesen. Das folgende Ereignis auch in dieser Zeit war eine durchaus ernste Angelegenheit. Der Sohn einer schwerkranken, hochbetagten Frau, hinderte mich daran, seiner Mutter eine Spritze zu geben, indem er sie mir aus der Hand schlug, dass sie am Boden zerschellte, und meinte, es sei jetzt genug. Er warte mit Ungeduld auf Übergabe des Anwesens. Es war während meiner Laufbahn als Arzt die erste Erfahrung einer massiven Behinderung der ärztlichen Hilfe.

Dr. Leitelt, unser Hausherr, ein Gerechtigkeitsfanatiker, durchwegs auf Seiten der Schwachen, meinte, es müsse die Justiz eingeschaltet werden. Der Ortspfarrer, ein älterer, erfahrener Herr, riet mir, die Angelegenheit gütlich zu regeln. Die Bauern hielten zusammen, Polizei sei schlecht für den Anfang meiner ärztlichen Tätigkeit. Schließlich raufte man sich wieder zusammen!

Übrigens, besagter Ortspfarrer gab bei seinem letzten Gottesdienst in der Pfarrkirche bekannt, dass er auf Grund seines Alters die Pfarrstelle verlassen werde. Er sei als Kanonikus nach Altötting berufen worden, worauf sich eine Gruppe von älteren Frauen vor dem Pfarrhaus einfand. Sie weinten und protestierten, dass der alte Herr jetzt auch noch zu den Kanonen müsse.

In den ersten Jahren passierten allerlei seltsame Dinge in der Praxis, vor allem auch auf Praxisfahrten. Die Verkehrsmittel, aber auch das Geld waren rar, so dass der Arzt täglich unterwegs war. Mein Wagen, einer der wenigen, ein kaffeebrauner VW, war bald überall im Praxisbereich bekannt.

In Irschenbach am Gallnerfuß war es. Auf der Dorfstraße stand ein Mann und fuchtelte wild mit den Armen. Ich hielt. „Ja", sagte ich, „das ist ja der Hans!"(Einer aus der Schule Haibach, aus meiner Klasse.) Für ein Gespräch war er momentan nicht zu haben, er deutete nur mit dem Zeigefinger der rechten Hand aufgeregt auf einen der oberen Schneidezähne. Der wackelte, schmerzte arg und musste schnellstens raus. Ich wollte ihn später behandeln, da ein dringender Besuch anstand. Das gelang mir aber nicht. - Ich muss einflechten, dass man auf der Uni in Hamburg auch Zahnheilkunde belegen konnte, ich hatte auch alles dafür im Wagen parat für alle Fälle. - Es ging jetzt alles sehr schnell, der Hans musste den Kopf in den Wagen hereinstecken, ich drehte in Ermangelung einer Hilfskraft die Seitenschlitze hoch bis unter sein Kinn, er knurrte noch: „Sakra!", ich: „Mund auf!", die Zange hatte ich griffbereit, schon war's geschehen! Er nochmal: „Sakra!" Er war dankbar für die schnelle Bedienung. Ich glaube nicht, dass ähnliche Zahnbehandlungen häufig sind.

Es war bereits die Rede davon, dass man nicht selten Schwierigkeiten hatte, sich auf die oft sehr unterschiedlichen Charaktere und Temperamente dieser Menschen aus aller Herren Länder einzustellen. Zwei Fälle sind mir gut in der Erinnerung, in denen ich mich nicht durchsetzen konnte, alles jedoch ein gutes Ende nahm. Ein Mann, ein befehlsgewohnter, sehr resoluter aus Schlesien - ich kannte ihn schon gut, er hatte nach der Flucht von der sog. Siedlung wieder einen stattlichen Hof bekommen - wurde eines Tages von seinem Sohn in einem sehr kleinen Auto vor meine Praxis gefahren. Eine Sense war von oben auf seinen Kopf gefallen und hatte die Kopfhaut von der Stirn bis zum Hinterhaupt aufgeschlitzt. Immense Blutung! Ein Fall für die Klinik. Als er mir, trotz Protestes meiner Frau, so ungefähr den Befehl gab, da oben zuzunähen, blieb für lange Diskussionen keine Zeit mehr. Das Blut sprudelte weiter. Schließlich nach unendlicher Näherei Kopfverband und hinaus ins Freie in den Schatten! Dort kollabierte er, Wiederbelebung mit Erfolg, dann bald danach rein in das kleine Auto und nach Hause! Er war ein so harter Brocken, dass ich ihn, blass zwar, schon nach einigen Tagen wieder auf seinem Hof herumwerkeln sah.

Noch im gleichen Jahr im Winter: Unfall im Wald, Ort und Weg waren mir bekannt. Ein Windbruchbaum war von einer Böhmerwaldfamilie gefällt worden. Der gefrorene Wurzelstock war ins Loch zurückgefallen, ein Fuß des Sohnes war unter der zentnerschweren Erdplatte eingeklemmt worden. Bis ich hinkam, hatte man mit vereinten Kräften den Fuß herausgerissen, mit der Folge, dass das Sprunggelenk zur Hälfte aufgerissen war, man konnte die Gelenkknorpel gut sehen. „Krankenhaus!" war meine Entscheidung. Diese lehnte die Familie strikt ab. Das Zunähen könne ich auch, meinten sie. Meine Frau warnte mich wieder, die anderen blieben siegreich. Nach unendlicher Näharbeit, mit Gipsverband, strikter Ruhe, viel Penicillin ­ und mit einer harten Konstitution heilte der Fuß so gut, dass man später keinerlei Folgen bemerkte.

Die Wegeverhältnisse von damals waren ein Kapitel für sich und spotteten jeder Beschreibung. Wurde doch der Bayerische Wald in der Nazizeit als gerade gut genug für eine Schafweide deklariert. Es geschah weder im Krieg noch lange Zeit nach dem Krieg Wesentliches. Sogar die Hauptverbindung über Konzell - Mitterfels - Agendorf war lange Zeit noch Sandstraße. Die schneereichen Winter oder die Regen im Frühjahr und Herbst machten den Ärzten und Tierärzten arg zu schaffen. Oft genug versank man im Schlamm bzw. Schnee, man musste das Auto stehen lassen und oft große Wegstrecken zu Fuß zurücklegen. Das war kräftezehrend in dieser bergigen Gegend. Ein Glück war es, wenn sich in der Nähe ein Gehöft befand, wo man um Vorspann nachsuchen konnte. Passieste das nachts, und das war nicht selten, und weitab von einer Siedlung, dann war man „von Gott verlassen". Wohin sollte man sich wenden? Sollte man im Auto die restliche Nacht verbringen bis zum Morgen?

In Elisabethszell war stets Endstation, außer bei trockenem Sommerwetter. Sonst ging es eben zu Fuß weiter nach Riedelswald oder Hiening oder in Richtung Grün oder auch nach Ober- und Unternebling sowie Pillersberg und Vornwald.

Es war ein Winter mit reichlich Schnee und schon dunkel. Da kam ein Hilferuf aus Maibrunn, Richtung Grün. Nach einer Stunde Fußmarsch war ich dort. Das Gehöft und die Leute kannte ich. Die Frau, Mutter von bereits sechs oder sieben Kindern, war hochfieberhaft, zudem hochschwanger. Blinddarm! Eile, große Eile war geboten. Es lag einzig und allein an mir, zu organisieren. Meine Frage an den Bauern: „Ham's an Bauernschlitten?"„Ja!" „Und Ochsen?" „Ja!" „Und Strohbündel?" „Ja!" Der Mann war immer sehr ruhig und sehr folgsam. Nachdem der Schlitten bereit war, die Strohbündel befestigt, die ältere Tochter mit 12 Jahren angewiesen, auf die Jüngeren aufzupassen, wurde die Frau, ziemlich gewichtig, von uns beiden Männern auf den Schlitten verfrachtet, festgebunden, und ab gings mit den beiden Öchslein ins Dorf hinunter. Ich übernahm die Sorge um die kranke Frau, der Mann führte die Tiere und bremste rechtzeitig auf dem steilen Weg. Ich lief voraus, um einen Sanitätswagen anzufordern, nachdem das Gefährt auf etwas besserem Weg war. Bergab konnte ich laufen, bergauf musste ich keuchen. Es ging alles gut, der Sanitätswagen kam schnell ins Dorf. Die größte Sorge - und das war immer so - war, dass die kleinen Kinder ihre Mutter wiedersahen.

Unser Sohn Stefan war viel unterwegs mit seinem Freund Pauli. Einmal zogen sie unser stabiles Leiterwagerl die Dorfstraße hinauf und hinunter. Frau B., eine angesehene, ältere, alteingesessene Mitterfelserin sagte: „Buam, lad’s mi auf, d’ Füaß tun mir weh!” Das taten die beiden gerne. Hundert Meter vor dem Haus von Frau B. bogen sie von der Lindenstraße ab und fuhren mit Frau B. in den Dorfweiher, den Baumeisterweiher. Das gab natürlich heftige Beschwerden. Meine Frau sprach ein Machtwort. Stefan sollte, statt so viel auf der Straße zu sein, den Vater auf den Praxisfahrten begleiten. Eines Tages waren wir mit meinem VW auf dem Rückweg von Konzell nach Haselbach. Es war sehr warm an diesem Tag. Ich fuhr nicht sehr schnell, aber ganz in Gedanken versunken. In Radmoos, in einer scharfen Kurve passierte es: Statt nach der Kurve geradeaus zu fahren, fuhr ich immer noch Kurve. Selten kam einem damals ein Fahrzeug entgegen. Heute jedoch schon, es krachte! Stefan fiel unter den Sitz, er war mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett gekracht und war kurz bewusstlos. Aus dem anderen Auto, das beschädigt war, kroch eine Familie heraus. Die Tochter war an der Lippe verletzt. Es galt, jetzt keine Panik aufkommen zu lassen. Ich gab ihnen die Versicherung, dass alles bestens geregelt würde und dass ich die Lippe des Mädchens im Haus nebenan sofort nähen würde. Als man das vernahm, war man zufrieden. Ein Arzt war da, dann war es gut. Stefan, mein Sohn, war wieder bei Bewusstsein. So konnte ich die Lippe des Mädchens nähen. An den Autos war zum Glück nur Blechschaden entstanden. Jeder konnte noch wegfahren.

Acht Tage später kam ein Landgendarm zu mir, um sich über die Ursache und den Hergang des Unfalls ein Bild machen zu können. Ich hätte wohl meine Gedanken noch beim letzten Patienten gehabt, meinte ich. Damit war er zufrieden. Meine Frau aber war nicht sehr angetan von diesem Ausflug mit Stefan.

Meine Schwiegermutter war jetzt viel im Haus, sie fand immer Arbeit im Haushalt und im Garten und beschäftigte sich auch mit ihrem Enkel viel. Für sie war es stets ein großes Vergnügen, mit ihrer Tochter zusammen auf Praxisfahrten mitgenommen zu werden. Sie konnte bequem im Auto sitzen und die Landschaft betrachten und genießen. Auch im Winter, wenn alles tief verschneit war, hatte sie ihre Freude an dieser Berglandschaft. In der Gegend von Hiening war es wieder einmal so weit: In einer vollgewehten Hohlgasse blieben wir hoffnungslos stecken. Ein Glück, dass in der Nähe ein größeres Gehöft war. Der Bauer, den ich gut kannte, half uns bereitwillig mit zwei großen Ochsen aus. Es wurde angespannt, ich lenkte, die zwei Frauen im Auto fühlten sich sicher und wohl. Die Schwiegermutter betrachtete mit Wohlgefallen die tierischen Hinterteile, die Keulen, die sie nun ganz nahe in natura sehen konnte, nachdem sie solche als Schlachtersfrau im Laden immer nur am Haken erlebte. Ich klärte sie auf, dass es auch kleinere, junge Ochsen gab. Die Menschen hier würden sagen, wenn sie über die Größe eines Anwesens erzählten: „Der hat ein Anwesen auf zwei kleine Ochsen oder ein Anwesen auf zwei große Ochsen.” Wer gar Rösser besaß, vor dem „nahm man den Hut ab”. Wer nur Milchkuhbesitzer war, spielte, was das Ansehen betraf, kaum eine Rolle. Meine Schwiegermutter hatte über dieses Ochsenerlebnis noch lange Zeit Gesprächsstoff.

In dieser Gegend war es auch, es war schon Frühjahr, dass mich meine Frau um 2 Uhr nachts zu einem Anwesen dirigierte, das ich zum Glück kannte. Jemandem dort sei ein Ohr fast abgerissen. Endstation war wieder Elisabethszell. Dann zu Fuß weiter, über eine Wiese abkürzend, geriet ich bis zu den Knien in einen stinkenden Tümpel und kam dann wohl leise fluchend in die Küche des Hauses des Austräglerehepaares, die bei dem kleinen Öllämpchen, das da brannte, kaum zu sehen waren. Der Altbauer war arg betrunken, ein Ohr war zu zwei Drittel abgerissen und hing herunter. Die alte Frau erklärte mir, eine Sense sei heruntergefallen und hätte das Ohr abgeschnitten, was ich anzweifelte, aber mich momentan kaum interessierte. Narkose war bei dem offenen Licht nicht möglich. Mit der Spritze durfte ich dem Patienten nicht nahekommen. Seine Frau meinte, der würde viel aushalten. Noch nie hatte ich ohne Betäubung genäht. Hier wurden es an die 20 Stiche. Der Mann nahm immer mal wieder einen Schluck aus der Pulle und überstand es gut. - Am nächsten Tag beichtete mir seine Frau, es sei nicht die Sense gewesen, sondern der Schwiegersohn, der bei einem sehr schlimmen Streit ihren Mann so heftig am Ohr gerissen habe, dass es fast abriss. Ich sagte ihr, dass mir das nachts schon klar gewesen sei. Das Ohr heilte schnell und gut ohne abzustehen. „Ja, ja, die alten Waldler!”, kann man da nur sagen.

Als unser Sohn dann im Winter auch den benachbarten Tierarzt Kramalowski auf seinen Praxisfahrten begleiten konnte, warteten wir auf die beiden einmal volle zwei Stunden. Als Stefan ziemlich mitgenommen zurückkam, erzählte er, sie seien in einer verwehten Hohlgasse im tiefen Schnee steckengeblieben. Der Tierarzt hätte mit Flüchen und hochrotem Kopf das Auto immer wieder mit Anlauf hineinstoßen lassen, wobei er das Auto mit „Du alter Bock” beschimpft habe. Auf einmal sei alles still gewesen, das Auto hätte sich nicht mehr gerührt. Die beiden mussten dann wohl oder übel mit Gepäck einen Fußmarsch von einer Stunde im tiefen Schnee bis zum nächsten Dorf zurücklegen.

Die „Tierarztens” waren unsere Nachbarn. Wir hatten uns angefreundet, sie waren froh und wir auch, dass man sich regelmäßig besuchen und Gespräche führen konnte. Er erzählte mehr „Tierisches” aus seiner ausgedehnten Praxis, auch vieles über Schlesien, von wo sie gekommen waren, von den schlesisch-preußischen Junkern und ihren Allüren. Wir hatten auch Erlebnisse, und so gab es genug Gesprächsstoff. Vor ihm, wusste er zu erzählen, sei ein Tierarzt, Dr. S., in Mitterfels und Umgebung tätig gewesen, von dem ich auch schon gehört hatte. Eine Begebenheit, die sich wirklich zugetragen hatte, will ich nicht verschweigen. Dr. S wurde von einem allseits bekannten Ökonomen um 2 Uhr nachts gerufen, einer Zeit, die immer als äußerst unangenehm empfunden wurde, wie sich jeder denken kann. Als Tierarzt sah er schnell, der Besuch hätte schon am Vortag sein können oder müssen. Jetzt der Hergang: „Machen’s der Kuh das Maul auf!”, sagte Dr. S. zum Bauern. „Ja” - „Schaun’s nei!” - „Ja” - „Siegst mi?” - „Na”. Er, der Tierarzt, hatte den Schweif der Kuh gehoben, blickte unter den Schweif und brüllte nach vorne: „Hama’s scho, Darmverschlingung!” Der Bauer soll es nicht bezweifelt haben.

Ich darf eine Frau aus Rattiszell nicht vergessen, die - ich weiß nicht mehr in welchem Jahr - 100 Jahre alt geworden wäre. So oft ich zu ihr kam, redete ich ihr zu und ermunterte sie, nicht nachzugeben, durchzuhalten. Warum ich von ihr so rede, hat einen Grund. Es war im 2. Jahr meiner Zeit in Mitterfels gewesen, als man mich zu dieser Frau dringend rief. Als sie sich in ihrem Garten aufhielt, hätte es gekracht, und sie habe im Nacken einen stechenden Schmerz gespürt. Der Augenschein ergab eine kleine Wunde im Nackenbereich, oberster Halswirbel. Ich nahm sie mit in die Praxis und röntgte sie. Im Bereich des obersten Halswirbels steckte ein 1 cm langes Geschoß, wohl aus einem Kleinkalibergewehr. Operieren kam, wie sie sagte, nicht in Frage. Lieber trüge sie dieses Blei weiterhin mit sich herum. Wer geschossen hatte, darum kümmerte sich eigentlich niemand. - Sie ist auch fast 100 Jahre alt geworden, leider starb sie 2 Wochen vor diesem Ereignis ganz plötzlich während des Mittagessens.

Die Praxistätigkeit und Praxisführung der Landärzte von damals kann in keiner Weise mit der der heutigen Landärzte verglichen werden. Der Arzt auf dem Lande führte vieles selbst durch, Krankenhauseinweisungen waren mehr für Notfälle mit Operationen. Auch Gynäkologie, sprich Frauenheilkunde, spielte eine große Rolle für den Praktiker. Die Frauen gingen durchwegs erst mal zum Hausarzt oder auch zur Hebamme. Hausgeburten waren das übliche, Krankenhausgeburten die Ausnahme. Fehlgeburten zu „erledigen”, waren für meine Frau und mich zur Routine geworden. Meine Frau war für die Narkose zuständig, ich für den operativen Eingriff. - Wenn die Frau schlank und leichtgewichtig war, war es problemlos. Das für mich schwerste Stück Arbeit bereitete mir immer der Transport von Schwergewichtigen vom Gynäkologen-Stuhl in den Ruheraum auf meinen beiden Armen. Meine Frau sagte stets, du hebst dir noch einen Bruch, was auch eintrat.

Eher durch Zufall kamen die Hebamme Balbina Gall und ich uns näher. Mit ihr, so der Volksmund, musste man erst ein Fassl Salz zusammen gegessen haben, bis sie Zutrauen fasste. Die Balbina, wie sie einfach genannt wurde, war auf Grund ihres Könnens, ihrer Erfahrung und ihres Umgangs mit den ihr anvertrauten Menschen in Mitterfels und der näheren Umgebung respektiert und geschätzt. Sie merkte bald, dass mir Geburtshilfe vertraut war, und ich Freude daran hatte. So entstand bald eine fruchtbare Zusammenarbeit. Viele Geburten konnte sie allein „erledigen”. Wenn sie Bedenken hatte oder Komplikationen eintraten, rief sie mich. Ich bin sicher, dass sie bis dahin schon viele hundert Geburten erlebt hatte. Oft gab es stundenlange Nachtsitzungen mit ihr zusammen, manchmal ging alles auch schnell über die Bühne. Darnach, wenn wieder mal alles gut gegangen war, waren wir beide hochzufrieden. - Warum die Geburten meistens nachts stattfanden, die wenigsten bei Tage, darüber wurde schon viel gerätselt. Ich denke, die Frauen kommen nachts einfach eher zur Ruhe für dieses Geschehen.

Einmal hatte ich vormittags Geburtshilfe zu leisten. Die Hebamme brauchte mich. Das ging dann so: 8 Uhr: „Bitte kommen!” Raus aus der Sprechstunde, rein nach Radmoos, wieder zurück. 10 Uhr: „Bitte kommen!” Raus aus der Sprechstunde, rein nach Radmoos, wieder zurück. 11.30 Uhr: „Bitte kommen!” Raus aus der Sprechstunde, rein nach Radmoos, endlich die Geburt. Lieber dann nachts, wurde mir klar.

Die Hebamme hatte sich im Laufe der Jahre allerlei Gewohnheiten zugelegt. Wenn bei einem Bauern alles gut geglückt war, dann gab’s eine Brotzeit mit Schwarzgeräuchertem und einem kühlen Bier. Das war längst bekannt. Ich wurde nicht ausgeschlossen. Wenn unsere Hebamme in Not geriet, Gefahr für Mutter oder Kind drohte, dann schrie sie förmlich ins Telefon, so dass meine Frau diesen Schrei an mich weitergab. Die folgende Begebenheit passierte in einer sehr hässlichen, eiskalten Winternacht mit Schneegestöber. „Die Frau verblutet!”, hatte ich noch in den Ohren. Meine Frau warf mir noch einen Bademantel über, mit Hausschuhen an den Füßen stürzte ich ins Auto. Zum Glück kannte ich das Haus, es waren vielleicht 5 km zu fahren. Sechs kleine Kinder waren schon da, bei den meisten hatte ich schon Geburtshilfe geleistet. 100 m vor dem Anwesen eine Schneewehe, raus aus dem Auto, zu Fuß, d. h. barfuß weiter, da die Pantoffel im Nu weg waren. Es war auch schon höchste Zeit! Narkose durch die Hebamme, Ausräumen der restlichen Nachgeburt, einige Injektionen durch den barfüßigen Geburtshelfer. Auf Brotzeit hatte niemand Verlangen. Man gab mir Schuhersatz für meine nackerten Füße. Die Schneeschmelze wird meine Hausschuhe wieder zum Vorschein gebracht haben.

Es gab damals Waldleroriginale wie heute auch noch, vielleicht damals häufiger. Die liebe Cilly war so ein Original. Sie erinnerte schon bei der ersten Begegnung an Peter Roseggers „Mooswaberl” in seinem Buch „Als ich noch ein Waldbauernbub war.” Ich hatte als Gymnasiast mit Begeisterung seine Bücher gelesen, soweit ich sie erreichen konnte. Die Cilly lebte, wie die Waberl auch, in und vom Wald, der Wald war ihre Heimat. Wenn ich sie bei Krankheit besuchen sollte, musste ich so ziemlich jedes Mal eine andere Richtung einschlagen, oft auch weit fahren. Sie hatte wenig Mittel, vielleicht deshalb der häufige Wohnungswechsel. Auch in der Praxis suchte sie mich hin und wieder auf. Einmal wären unser beider Wege dabei bald zu Ende gewesen. Sie hielt mir ein uraltes, vielleicht 100 Jahre altes, abgegriffenes, schwarzes Büchlein unter die Nase. Ich solle das studieren, da könnte ich noch viel dazulernen. Sie hätte zurzeit ziemlich Kreuzschmerzen, da müsse man sich eine lebende Kröte auf die Brust binden. Wenn sie sich nicht mehr rühre, müsse man sie mitsamt den Kreuzschmerzen wegwerfen. Ich sah sie fragend und zweifelnd an, da deutete sie auf ihre Brust und meinte, „Sie rührt sich nicht mehr!” „Raus”, sagte ich, weg war sie. Es tat mir leid, ich mochte sie in ihrer Art gerne.

Aber die Cilly war nicht nachtragend, plötzlich tauchte sie wieder auf. Nachdem sie anscheinend des häufigen Wohnungswechsels überdrüssig war, eröffnete sie mir eines Tages, sie wolle jetzt endlich eine Höhle, ein Nest für sich allein haben, sich ein Häuschen mit den eigenen Händen errichten in einem sehr entlegenen Tal, an einem Waldrand; ein Bauer hatte sie nicht abgewiesen. „Und die Behörde, da Schwarzbau?”, warf ich ein. Mit denen würde sie fertig, entgegnete sie kampfessicher. Ein Jahr lang sammelte sie alles, was zum Bau nötig war: Feldsteine, Rundholz, Kalk, Sand, auch Ziegel, Dachziegel usw… Im 2. Jahr entstand der Bau im Talgrund langsam in Handarbeit, ohne Hilfe. Sie kam des Öfteren in die Praxis und erzählte von ihren Arbeiten. Schließlich zog sie ein in ihr Häuschen. Die Behörde kam bald und immer wieder, sie empfing sie so brutal, dass diese aufgaben und sich wohl auf das Zuwarten eingestellt hatten.

In einer Sommernacht, so um 12 Uhr, wurde ich zu ihr gerufen, sie hätte sich wohl etwas gebrochen. Man wollte in Hitzenberg ein Licht vor die Türe stellen, um mir den Weg zu erklären. Es ging auf Waldwegen in ein Tal hinein, am Waldrand entlang, bei dem trockenen Wetter konnte ich bis zu ihrem Häuschen fahren. Es lag da im Mondschein wie ein echtes Hexenhäuschen aus dem Märchen. Rundherum nur Wald und ein Wiesengrund, sonst nichts. Sie lag auf einer Matratze und jammerte, das Bein war geschwollen und rot: ein Knöchelbruch. Ich wollte den fälligen Gipsverband anlegen und fragte nach Wasser. Sie habe keins, sagte sie und sah mich nur jämmerlich an; im Wiesengrund, 100 m von hier, sei eine Quelle, ob ich doch so gut wäre. So wanderte ich denn talwärts mit dem Eimer und dachte: „Wie in Russland.” Der Gipsverband war fertig, Verhaltensmaßregeln erklärt, da sah sie mich wieder so jämmerlich an und deutete auf die junge Kuh, von der sie bereits erzählt hatte, sie sei ihre einzige Wohngenossin. Sie müsse verdursten diese Nacht. „Bitte Herr Doktor!” Ich wanderte nochmals, was blieb mir anderes übrig, mit dem Eimer ins Tal und tränkte noch die Kalbin, die Cilly wollte auch noch einen Becher voll. Sie war übrigens bald wieder oben auf. Nach mehreren Jahren ließ sie sich überreden, ihren christkatholischen Glauben aufzugeben und zu den Zeugen Jehovas zu wechseln. Dahin sollte ich ihr folgen, bedrängte sie mich immer wieder. Als sie gestorben war, gab es große Schwierigkeiten wegen des christlichen Begräbnisses, wobei man mich als langjährigen Arzt auch massiv einschaltete.

In dieser Zeit kam es auch zur ersten und einzigen Auseinandersetzung mit Balbina, der Hebamme. Meine Frau sollte entbinden, an einem Montag war der Termin. Sonntag war es ruhig. Ich schlug vor, die Geburt einzuleiten, es wäre schön Zeit und Ruhe. Da hielt Balbina mir eine rechte Standpauke, was mir einfiele, man solle der Natur ihren rechten Lauf lassen, sie würde sich nicht beteiligen. Montag ging dann ja alles recht gut.

Wenn Schneeschmelze eintrat oder die Wege durch viel Regen aufgeweicht waren, dann waren manche Wege grundlos. Man konnte dann regelrecht mit dem Wagen halb versinken. So erging es mir eines Nachts auf dem Wege zu einer Ortschaft, nahe Haibach. 500 m vor dem Ort versank mein Wagen im Schlamm so tief, dass keine Tür mehr zu öffnen war, ich durch die offenen Seitenfenster kriechen und Koffer und Ta­che nachziehen musste, um dann zu Fuß zum Haus der zu Entbindenden zu gelangen. Dort erwarteten mich wiederum nur Schwierigkeiten. Hebamme war keine da, die eine krank, die Aushilfe nicht erreichbar. Die Geburt ging nach ca. 2 Stunden vonstatten; jedoch auf die Nachgeburt wartete ich vergebens. Nabel, Kind baden, versorgen. Der Ehemann, nicht sehr gewandt, musste die Narkose nach Anleitung machen. Nachgeburt herausholen, großer Dammriß, örtliche Betäubung, große Naht, Kind anziehen. Nach drei Stunden war alles geschafft. Jetzt ging’s auf Ochsensuche, mitten in der Nacht. Es war immer erfreulich, in solch widrigen Situationen hilfreiche Menschen (und Ochsen) zu finden.

Im Winter, vor allem bei tiefem Schnee, versuchte man, möglichst jede Möglichkeit zu nutzen, um bei weiten Wegen ohne zu große Anstrengung ans Ziel zu kommen. Elisabethszell z. B. liegt eingebettet in einem Kessel, ringsum von Höhen umgeben. Wenn man bis Obernebling den ganzen Höhenweg gegangen war, dann sah man schon in die Ebene in Richtung Bogen und Straubing hinaus. Das war weiß Gott ein weiter Fußmarsch. Ich musste ein paarmal hintereinander zu Patienten dahin. Das waren Stunden, die man unterwegs war. Einmal nahm ich die Skier, um den Weg vielleicht einfacher und schneller machen zu können. Es war Tiefschnee, bergan schwitzte ich. Bergab bohrten sich die Skispitzen in den Schnee, ich flog kopfüber zwei Meter nach vorne, der Rucksack noch etwas weiter, es klirrte beträchtlich. Beim Hause des Kranken hatte ich noch so viel Unversehrtes, dass ich ihn verarzten konnte. Meine Frau hatte mich gewarnt, sie wusste ja auch, dass ich nicht der beste Skifahrer war.

Was ich jetzt zu erzählen habe, war wieder eine geburtshilfliche Begebenheit, an der ich lange seelisch zu knappern hatte, selbst von Alpträumen blieb ich nicht verschont. Wieder einmal, es war ein sonniger Sommersonntag, schrie die Hebamme ins Telefon: „Schnell, das Kind atmet nicht!” Meine Frau gab’s an mich weiter. Ich raste über Konzell, Wies, Neurandsberg fast bis Moosbach („Wo kommt die Balbina bloß überall hin?”). Bei der Zeitspanne konnte ich mir keine Aussicht auf Erfolg vorstellen. Am Haus, das ich zum Glück wusste, angekommen, zerrte man mich förmlich hinein. Ich konnte nicht einmal mehr meine Bedenken äußern. Das erste Kind, ein Bub, Stammhalter: Das Kind war blau, atmete nicht - und so lange schon!

Wie schon oft genug die üblichen Wiederbelebungsversuche ohne Hoffnung auf Erfolg, mit schlechtem Gewissen. Nach ein paar Sekunden, Minuten - ich weiß es nicht - schnaufte das Kind, schnappte wieder nach Luft, schlug die Augen auf und schrie. Die Anwesenden, auch die Hebamme, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. - Ich fuhr wieder. Zu Hause saßen meine Frau und ich zusammen mit hängenden Köpfen. Was nun? Behindert? Ich schuld? Das verursachte mir Alpträume, wie schon gesagt. Ich verdrängte mein Problem schließlich. Es war nach mehreren Jahren, als eine Frau mit einem Bub an der Hand in mein Sprechzimmer trat. „Kennen Sie mich, Herr Doktor?” - „Nein” - „Das hier ist doch der Bub, der so lange nicht geschnauft hat.” - „Und - ist er gescheit und gesund, fehlt ihm nichts?” - „Er ist einer der Besten in der Schule,” sagte die Frau, „und gesund ist er auch.” Ich glaube, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wenn ich das bei Kollegen erzählte, meinte man meist, es gäbe noch Wunder.

Natürlich gab es immer wieder Überraschungen. Im wahrsten Sinne des Wortes wurde ich eines Morgens überrascht und zwar im Bad. So überraschend war da Besuch, dass ich mir nichts mehr überwerfen konnte. Ein alter Herr war einen Tag zuvor verstorben. Ich hatte die Leichenschau gemacht und den Schein im Hause hinterlegt. Die Tochter, auch schon älter und etwas seltsam, hatte die Vorstellung, der Vater sei nur scheintot und würde eventuell lebendig begraben. Dem Doktor glaubte sie nicht unbedingt. So hatte sie mich schon ein paarmal aufgesucht, natürlich wich ich ihr nach Möglichkeit aus. Sie fand irgendwie einen Weg zu mir und überraschte mich morgens im Bad im ersten Stockwerk. Ich war so wütend, dass ich sie unter großem Getöse die Treppe hinunter jagte, so dass das Haus aufgeschreckt wurde. - Die Beerdigung fand dann doch statt.

Die langwierigste, ermüdendste und strapaziöseste Geburtshilfe stand uns bevor, der Hebamme und mir. Der Anmarsch war schon eine Strapaze: tiefer Schnee, bergan in Richtung Lanzlberg, eine Stunde lang mit Koffer und Tasche. Die Hebamme hatte nach mir gerufen, weil wieder mal sechs oder sieben kleine Kinder im Nebenraum lärmten. Als ich an das Haus kam, das ich kannte, war alles stockdunkel. Ich schlich um das Haus; auf der Rückseite oben ein Lichtlein, da hinauf ging eine Art Hühnerleiter. Durch ein schmales Türlein kam man in die Wohnung. Diese hatte nur zwei Räume, klein, niedrig, ärmlichst war alles, zwei Betten standen da, in einem lag die Wöchnerin. Zwei Stühle gab es, einen für die Hebamme, einen für mich. Nebenan die Kinderschar. Der Geburtsverlauf war so schleppend, dass wir sage und schreibe an die sieben Stunden dort ausharren mussten. Der Ehemann sah wohl, dass wir von den Stühlen zu kippen drohten. Wir sollten uns abwechselnd in sein Bett legen, schlug er vor. Das taten wir auch. Die Hebamme weckte mich und umgekehrt, je nach Umständen. Es kam gegen Morgen mit einem gesunden Buben zum glücklichen Ende. Ausgelaugt kehrten wir heim. Am nächsten Morgen, schon frühzeitig, erschien der Kindsvater in meiner Praxis und klagte jämmerlich, er hätte kein bisschen Geld, um für die Kinder Milch zu besorgen, ob ich so gut wäre und ihm 50 Mark leihen würde. Er bekäme sicher wieder Arbeit. Ich gab ihm das Geld. Bald danach hörte ich, die Familie E. sei ganz überraschend verzogen, tiefer in den Wald hinein. Sie hätten auch vielerorts Schulden hinterlassen.

Im Übrigen gab es nun doch schon Veränderungen im Laufe der Jahre, manche schon spürbar, manche im Kommen. Dass unsere verehrte Hebamme Balbina Gall die Strapazen, von denen hier genügend die Rede war, nicht auf Dauer durchstehen konnte, war einleuchtend, zumal sie auch nicht mehr die jüngste war. Sie ging jetzt vielfach dazu über, die Frauen zur Geburt ins nächste Krankenhaus zu lotsen. Somit wurden Hausgeburten auch für die Landärzte weniger und weniger. Ein treuer, langjähriger Pastient, der die Woche über in Stuttgart arbeitete, drückte sich an einem Samstag in der Sprechstunde so aus: „Da gibts jetzt a Maschin, a Maschin gibt’s jetzt.” Das hatte er wohl in Stuttgart mitbekommen. Das hörte man immer wieder, erst leise und dann immer lauter. Die Maschinen, d. h. die Apparate in der Sprechstunde, die Apparatemedizin waren im Vormarsch. Wie der Lateiner vor 2000 Jahren schon sagte: „Homo est cupidus verum novarum.” (Der Mensch ist begierig auf Neues.) Viele beurteilten die ärztlichen Praxen nach der Zahl der Apparate, die dort standen, nicht mehr immer nach der Zuwendung des Arztes an seine Patienten.

Es fielen Worte wie: „Opas Praxis” oder „Wald- und Wiesendoktor”. - Autos gab es immer mehr, gute Wege und Straßen auch, schon auf Grund der Flurbereinigungsmaßnahmen. Die vielen Flüchtlinge, von denen hier die Rede war, wurden weniger, sie suchten und fanden neue Möglichkeiten des Weiterkommens. Frl. Balbina Gall hatte noch einige gute Jahre des Ruhestands in Mitterfels. Als sie starb, war ich bei ihr.

Die geschilderten Geschichten der ersten Jahre wurden seltener. Wir beide, meine Frau und ich, hatten ein gerütteltes Maß an Arbeit und Mühen hinter uns gebracht. Jetzt konnten wir mit Befriedigung Kommendem entgegensehen - wie es so schön heißt: Und die Karawane zieht weiter.

Quelle: Dr. Alois Riedl, in: Mitterfelser Magazin 5/1999 und 6/2000