Sagen aus der Region (6)
Einer alten Sage1) nacherzählt von Justizrat Alfons Prager in Straubing (im Jahr 1925 - Quelle: Der Bayerwald).
Im Tal der Menach2) vor dem Lanzlberg3) und Lanbasberg4) stehen auf einem bewaldeten Hügel die Reste eines stolzen Schlosses. Einem Totengerippe gleich grinsen die bleichen Wände mit den leeren Fenstern in das Tal hinab. Blutrot erglühen die Mauern in der Abendsonne, als wollten sie künden von dem grausamen Manne, der einst da droben hauste.
Jahrhunderte ist‘s her, da saß hier ein gar stolzer und gestrenger Herr. Wehe dem Hörigen, der nicht auf den Tag den Zehent seinem Grundherrn entrichtete! Man warf ihn in den Turm. Wehe dem, der die strengen Gebote seines Herrn missachtend, die alte Forderung der Bauern: „Frei Fisch, frei Wild!" in die Tat umsetzte! In einen Sack genäht warf man ihn in den tiefen Schlossweiher. Da könne er sich dann an den Fischen ergötzen. Und den, der sich am Wild vergriff, band man mit Stricken an das Geweih eines Hirschen5) und trieb das Tier durch Dickicht und Dorn, bis dem Frevler das Fleisch in Fetzen vom Leibe hing. Aber die Strafe blieb nicht aus
Schweres Siechtum befiel den Grausamen. In langen Nächten floh ihn der Schlaf. Jahre hindurch in den Lehnstuhl gebannt, tat er endlich seinen letzten Seufzer. Alter Sitte getreu trugen ihn seine Knechte zu Tal. In der Kirche des Dorfes sollte er auf der Bahre liegen und dort seine letzte Ruhestätte finden. Nicht schwer war die Bürde, die sie trugen. Die Jahre der Krankheit hatten den Körper aufgezehrt. Doch der Weg ging gach zu Tal und die Träger wollten sich verschnaufen. An einer Wegbeuge machten sie Rast und stellten die Totentruhe ab. Doch plötzlich hörte man in den Lüften ein Stöhnen und Ächzen und Wehkklagen. Die alte Burglinde und die Bäume rundum schüttelten die Äste unb och spürte man nicht den Hauch eines Windes6). Eine Schar schwarzer Krähen umflatterte mit heiserem Krächzen die Knechte. Die aber flohen entsetzt, und kehrten erst wieder, da sie das Stöhnen und Ächzen und Wehklagen nicht mehr vernahmen. Als sie aber den Sarg wieder auf die Schultern hoben, da waren sie bass erstaunt. Noch leichter, ganz leicht war die Bürde geworden! Und es sprach einer zum andern, von wannen das komme? Und weil niemand Rat wusste, fassten sie Mut und lüpften der Truhe Deckel. Und was sie auch suchten und sich mühten: Leer war der Schrein, nichts fanden sie mehr von ihrem toten Herrn. Der Gottseibeiuns hatte ihn zur Hölle entführt! Dort muss er seine Sünden büßen in ewiger Verdammnis.
Doch einmal im Jahr, am Tag seiner Höllenfahrt, gibt ihn Satanas frei auf eine Nacht. Dann hört mans im alten Gemäuer heulen und ächzen und wimmern und wehklagen. Und es sprechen die Leute: „Hört ihr, jetzt wandert und weizt er wieder in den stummen Wänden, wo er wohnte und wütete, ohne Rast und ohne Ruh‘, bis er beim ersten Hahnenschrei wieder hinabsteigt zur Tiefe.“