Der Kanzler-Macher aus Scheibelsgrub
Er war ein bescheidener, dennoch erfolgreicher Politiker. Doch je mehr die persönliche Erinnerung an Johann Wartner aus Scheibelsgrub, Markt Mitterfels im Landkreis Straubing-Bogen verblasst, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Geschichtsschreibung seiner Persönlichkeit gerecht wird.
Dabei war dieser aufrechte Bayerwaldler Kanzler-Macher und damit mitentscheidend für die politische Richtung der Bundesrepublik Deutschland nach der ersten Wahl zum Bundestag.
Kanzler-Macher?
Ja, unstreitig war es der Abgeordnete des Bundeswahlkreises Straubing, Johann Wartner, der dem CDU-Abgeordneten Adenauer die entscheidende Stimme zur notwendigen absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang gegeben hat, bei der es namentlich um CDU oder SPD ging, in Wirklichkeit aber um die geopolitische Zukunft Deutschlands: West-Anbindung oder Neutralität mit einer fatalen Ost-Neigung. Dies war die Gewissensfrage, der Johann Wartner sich stellte, verbunden mit handfesten sozialen Überlegungen, jedoch ohne persönliche Finanzinteressen: ein feiner, für ihn wichtiger Unterschied, der seinen Charakter als ein mitmenschlicher, mitleidender Mensch kennzeichnet.
Schon der junge Wartner hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl entwickelt und die entschiedene Neigung, die eigene Armut und die der Mitbürger nicht als gottgegeben hinzunehmen. Dass Johann Wartner sich im BBB engagierte, dem Bayerischen Bauern- und Mittelstandsbund, offenbart sein Misstrauen gegen Opportunismus und Uniformität, vor allem aber einen individualistischen Widerspruchsgeist: Wartner nickte nie, wenn radikale Parteichefs im Bayerischen Landtag auf dem Fraktionszwang beharrten, sondern informierte sich und entschied dann nach persönlichen Überzeugungen.
Johann Wartner und seine Frau Therese bewirtschafteten 13 Tagwerk. Es war ein saures Leben mit sieben Kindern; von den fünf Söhnen fielen zwei im Zweiten Weltkrieg. Nebenher war er Gemeindediener, Fleischbeschauer, Kassier und Kontrolleur der Krankenkasse. Dass er mit Traumergebnissen in den Bayerischen Landtag, zum Bürgermeister, Gemeinde-, Bezirks- und Kreisrat gewählt wurde, beweist, dass er eine absolut vertrauenswürdige Persönlichkeit war. Das Unglück des Krieges 1914/18, der ungeheuerlichen Menschen- und Materialverluste, danach einer in den Anfängen erstickten Revolution, des Verfalls der Moral und des Wegfalls aller bisher akzeptierten Gesellschafts- und Ordnungsnormen hinterließen ein Vakuum, das der geborene Politiker Wartner zu füllen begann. Historiker verglichen ihn mit Ludwig Thomas „Filser”, gänzlich falsch: Filsers stete eigennützige Finanz- und Raffbemühungen waren Wartner gänzlich fremd. Und wo Filser Opportunist war, verkündete Wartner: „Mein Gewissen entscheidet, Taktik ersetzt kein Gewissen!”.
Geburtshaus des Johann Wartner in Scheibelsgrub - Vergrößern durch Anklicken!
Ab 1919 wirkte Wartner in kommunalpolitischen Gremien mit. Am 6. Juni 1920 gewann der Bauernbündler mit 12.133 Stimmen sein erstes Landtagsmandat, „ein Triumph für einen Niederbayern mit sieben Jahren Schule, drei Jahren Sonntagsschule und ganz einfacher Herkunft.” „Mögen haben mich alle, vom Landtagsboten bis rauf zum Ministerpräsidenten.” Zahlreiche Landtagsreden offenbaren die Weitsicht des politischen Naturtalents Wartner: 1924 schilderte er die Not der Kleinbauern, die Last ungerecht verteilter Steuerpflichten und das Ergebnis einer Marktwirtschaft, die weder sozial noch frei war. In Wahlreden wandte Wartner sich gegen die Überorganisation der Sozialversicherung. „Die Ärzte nehmen die Kassen aus, die Kassenverwaltungen ihre Mitglieder.” Klangen seine Reden über die nötige Sparsamkeit im Kranken-, Krankenhaus- und Kurwesen schon wie jene des Bundesgesundheitsministers Horst Seehofer (CSU) und dessen Nachfolgerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) in den Jahren seit 1993, hören sich Wartners Landtagsappelle zur Finanzierbarkeit des Sozialstaates nicht minder zeitlos an. Was er zwischen 1920 und 1932 forderte, ist auch 2000 Thema: Nullrunden für gehobene und höhere Beamte; leistungsgerechte Bezahlungen für Niedriggehälter und lohngruppen im öffentlichen Dienst; die Berechnung der längerfristigen Finanzierbarkeit von Pensionen; eine gerechte Verteilung der Steuerlasten; „produktive Erwerbslosigkeit” durch staatliche Investitionsförderungen; soziale Kriegsopfer-, Behindeten- und Armenfürsoge; aktive Wohnbaupolitik; Abbau von Zollschranken und offene Märkte. Wartners Worte lesen sich 77 Jahre danach wie eine Prophezeiung: Die Inflation treibe verarmte Menschenmassen Hitler und seinen Helfern in die Arme und gefährde die noch junge, ungefestigte Demokratie. Verbittert klagte er nach dem Zweiten Weltkrieg: „Damals hätten mutige Demokraten die Demokratie in die Zukunft retten, den Extremismus abwehren können.” Als die NSDAP die Macht übernahm, wurde Bürgermeister Wartner gefeuert, der am Vorabend der Wahl im Gasthaus Moosmüller gewarnt hatte: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!” Nachbarn erinnern sich eines Mannes, „der in den schweren Kriegsjahren jenen beisprang, denen die Männer auf den Höfen fehlten. Wartner sorgte dafür, dass ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene trotz der Verbote in seinem Haus und bei den Nachbarn mit an den Tischen saßen, dass die katholischen Polen seelsorglich betreut wurden.” Johann Wartner baute gleich nach dem Krieg die Bayernpartei mit auf und wurde mit 31.756 Stimmen als einer von 17 BP-Abgeordneten in den ersten Deutschen Bundestag gewählt. Empört lehnte er die Taktiererei seiner Fraktionsoberen ab. Die kalkulierten kühl, dass CDU/ CSU, Zentrum und andere Randgruppen, die FDP und Einzelabgeordnete zusammen nicht ausreichten, Konrad Adenauer im ersten Wahlgang zu wählen. Exakt eine Stimme fehlte ihm selbst im günstigsten Falle. So wollte die BP Kurt Schumacher verhindern, Adenauer aber in eine zweite Abstimmung zwingen. Zwischen diesen Abstimmungsterminen sollten der BP in internen Verhandlungen mit den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD maximale Vorteile verschafft werden. Wartner versicherte noch 1960, „dass es nicht um persönliche Vorteile für uns BP-Abgeordnete ging, sondern um solche für unsere Wähler, vor allem für die Bauern”.
Der 15. September 1949 war der entscheidende Tag im Leben des Landwirts und Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages, Johann Wartner, BP. Die BP-Fraktionssprecher, die ihren Wartner kannten und wussten, dass er sich niemals einem Fraktionszwang unterwerfen würde, der seinem Gewissen zuwiderliefe, gaben die Weisung aus: „Heute bekommt Adenauer unsere Stimme noch nicht!” Wartner: „Ein Schmarrn! Ich hatte mir den Adenauer angesehen und war sicher, der macht schon alles recht. Die Abstimmung, ein Abgeordneter nach dem anderen wurde aufgerufen, ich schrieb ‚Ja’ auf den Zettel und wählte so Adenauer. Ich war die Pro-Adenauer-Stimme Nummer 202 und hörte den Jubel der Adenauer-Freunde, die Wut der Sozialdemokraten und der Kommunisten und meiner Parteifreunde. Ein SPD-Abgeordneter giftete, ‚Adenauer hat sich selbst gewählt’, als wäre das eine Schande. Aber genau gezählt hatten sie eben doch nicht, weil ihnen hätte auffallen müssen, dass es im Adenauer-Lager nur 201 Stimmen gab. Es war aber eine mehr für ihn abgegeben worden. Und das war die entscheidende gewesen, meine!” Die Fraktionen versammelten sich in ihren Räumen, Wartner begründete seine Entscheidung für Adenauer und wurde beschimpft, doch sein Fraktionschef Gebhard Seelos sprang ihm bei. Dann ging er mit Wartner zu Adenauer: „Raten Sie mal, wen ich hier habe? Die Stimme 202!” Und Adenauer dankte. Wartner hatte vor seiner Fraktion sein Votum so begründet: „Das Volk erwartet, dass wir arbeiten. Es hat kein Verständnis für taktische Mätzchen.“ BP-Abgeordneter Baron von Fürstenberg: „Ohrfeigen könnte ich mich, ich hatte die gleiche Idee, aber nicht den Mut; saudumm waren wir alle zusammen!” Der große Moment des Johann Wartner am 15. September 1949 dauerte laut Bundestagsrotokoll von 11.06 bis 11.53 Uhr und soll von Finanzüberlegungen bestimmt gewesen sein? Das bestätigte der fast Achtzigjährige, der während des Gesprächs das Stöckeklieben in seiner Holzschupfe keinen Augenblick unterbrach. „Es ist aber auch hierbei nicht um Eigennutz gegangen.” Nein, der Landwirt hatte die Oberhand gewonnen, der nicht vergessen hatte, dass Armut schmerzte: „Als ich erfuhr, dass erst Wochen darauf neuerlich abgestimmt würde, hatte ich mir überlegt, dass bis dahin keine Minister ernannt seien, kein Ministerium arbeite, keine Ordnung einkehre, nichts über Renten und soziale Hilfen, kein Wort zur Arbeitsverwaltung entschieden werde. Ich sah die Flüchtlinge und Vertriebenen vor mir, die nicht wussten, wie sie den Winter überstehen sollten, die Firmen, die weder importieren noch exportieren konnten, die Bauern, die nicht wussten, wie sie ihre Ernten verkaufen, ihr Vieh ins nächste Jahr bringen sollten. Dass alles stockte, konnte ich nicht verantworten. Solche Finanzgedanken haben mich geplagt. Sicher, die Diäten waren schon festgelegt. Aber ich selbst hatte ein Bonner Billigstzimmer gemietet und lebte vorwiegend von trockenem Brot, aß ganz selten mal in irgendeinem Gasthaus das billigste Gericht: Bratkartoffeln. Weil ich nicht zu den Großkopferten gehörte, konnte ich mich in die Notlage der Armen hineinversetzen. Und wenn ich nach Scheibelsgrub kam, sah ich die überfüllten Höfe. Selbst in uralten Nebengebäuden hausten Menschen. All die Bilder grausiger Armut im Land hab ich in Mark und Pfennig umgesetzt und dann den Adenauer gewählt. Das waren die Finanzinteressen, es waren nie meine persönlichen!”
Konrad Adenauers Stimmenergebnis vom 15. September 1949: Ja 202, Nein 142, Enthaltungen 44, ungültig 1. (Bundestagsabgeordnete 402, notwendige Mehrheit also 202 Stimmen). Als Johann Wartner am 13. Januar 1963 in Scheibelsgrub starb, hatte Konrad Adenauer noch zehn Monate als regierender Bundeskanzler, zu dem ihn der arme Landwirt gemacht hatte.
Stimmen zur Gewissensentscheidung
Augsburger Tagespost: Der Weg des jungen Staates begann auf dem Wege des Gewissens. Wir gratulieren der Bayernpartei, daß sie sich vor dieser Stimme ehrfürchtig geneigt und ihr Erschallen zu einem Festtag gestaltet hat. (Dr. Josef Rußwurm)
Süddeutsche Zeitung: Parteien, die solche Männer in ihren Reihen haben, sind zu beglückwünschen. Solche Männer, die das Gewissen gleich zweimal drückt, einmal beim Abstimmen und dann beim Gestehen, die sind uns liebere Volksvertreter als die braven Zinnsoldaten des Fraktionszwanges. (Dr. August Schwingenstein, Herausgeber der SZ)
Westfälische Nachrichten: Johann Wartner hat tatsächlich das Rad der Geschichte bewegt. Gewiß, Adenauer wäre vermutlich im zweiten Wahlgang gewählt worden, ob er aber einen solchen Fehlstart überlebt hätte, ist zweifelhaft. (Dr. Bernd Haunfelder)
Neuer Mainzer Anzeiger: Diesem braven Manne, der als erster im Bundestag den Fraktionszwang durchbrochen hat, wollen wir ein Denkmal errichten in unsern Herzen. Gerade der Fraktionszwang hat zu einer Verknöcherung des Parlamentarismus und vielfach dazu geführt, daß der Wille des Wählers nicht mehr berücksichtigt wird, sondern nur der Befehl des Fraktionsvorsitzenden. (ZZ)
Ein Mitterfelser Kommunalpolitiker: Wartner gilt für mich als Abtrünniger, denn er hat sich nicht an den Fraktionszwang gehalten.
Bayerische Landeszeitung (Organ der Bayernpartei): Wartners Entscheidung beruhte auf einer persönlichen Auffassung, die für ihn zwingender war als die fraktionelle Verabredung, und sein Standpunkt wurde daher von der Fraktion der Bayernpartei anerkannt und gewürdigt.
RegensburgerAnzeiger: Die Fraktion hat die persönliche Entscheidung ihres Mitgliedes durchaus geachtet und anerkannt. Was aber an diesem Verhalten des Abgeordneten Wartner das Bedeutungsvollste ist, scheint uns, daß sein persönliches Gewissen die Entscheidung traf. Eine vorbildliche Haltung für politische Wahlen!
Straubinger Tagblatt: Als das knappe Ergebnis bekannt wurde, war Wartner in Bonn der Held des Tages. Auch seine Parteifreunde vergaßen alle taktischen Erwägungen über der Genugtuung, daß Wartner mit seiner Stimme für den christlichen Kanzler dessen Wahl entschieden hatte. (Die Redaktion)
Fränkisch-Südthüringische Rundschau: Er ist inzwischen in die Geschichte eingegangen, der Abgeordnete aus dem Bayerischen Wald. (Wolf Peter Schaefer)
Eßlinger Zeitung: Freiherr von Fürstenberg zu Wartner: „Ich könnte mich totärgern, weil wir es nicht genauso gemacht haben wie Du.” (Hannes Schmitz)
Hamburger Abendblatt: Adenauer zu Wartner: „Sie sind der vernünftigste Mann der Bayernpartei, würden nur alle nach ihrem Gewissen entscheiden!”