Zeitzeuge erinnert sich an die Zeit vor Kriegsende

2023 05 06 Zeitzeuge Schindler B

Vergrößern durch Anklicken!

Anlässlich des bevorstehenden Jahrestages der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, dem 8. Mai 1945, erinnert sich Kriegskind Alfred Schindler aus Mitterfels an die ungewisse und beängstigende Zeit kurz vor Kriegsende.

Das Kriegsende sowie die Tage und Wochen davor und danach erlebte ich in Seybothenreuth, einer kleinen Ortschaft im südlichen Landkreis Bayreuth, Oberfranken.

Ich war damals ein „Dreikäsehoch“, geboren am 25. Juni 1941. Unser Vater war noch im Krieg. Nachrichten über seinen Verbleib hatten wir nicht – das war für uns beklemmend. Wir drei kleinen „Orgelpfeifen“, so nannte man uns in Verwandschaftskreisen wegen der Geburtenreihenfolge 1939, 1940, 1941, bewohnten mit unserer Mutter das Bahnhofsnebengebäude an der Bahnstrecke Bayreuth – Weiden. Wegen der Militärzüge, Transport von Kriegsgerät und Munition sowie der Nähe des Zielgebietes Bayreuth kein ungefährlicher Ort – mögliches Zielobjekt feindlicher Bomber!

Wiederholt heulte vor allem des Nachts am Wohnort die Sirene. Fliegeralarm. Schnell die schwarze Verdunkelung an den Fenstern herunterlassen, Licht aus und ab in den Keller. Dort saßen wir dann mit der Mutter bei Kerzenlicht verängstigt auf zwei gepackten Koffern und warteten zusammengekauert hoffend und bangend auf das Signal der Entwarnung. Die Bombenlast galt der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Bayreuth. Dort brachte sie Tod und Zerstörung. Unser Dorf wurde in den letzten Tagen auch noch beschossen. Versprengte SS-Soldaten hielten sich hier versteckt, mindestens einer von ihnen ist gefallen, andere konnten sich fluchtartig absetzen, erzählte uns später unser Vater. Eine Panzergranate traf unser Haus, ein Bahnhofsnebengebäude. Welch eine glückliche Fügung – das Geschoss blieb als Blindgänger in der Hauswand stecken. Wir durften unverletzt überleben. Ich könnte noch heute die Stelle zeigen, wo die Granate einschlug.

Unser Vater, der in den mörderischen Krieg nach Russland hatte ziehen müssen, überlebte angeschlagen. Mit einer Verwundung am Arm, ein Granatsplitter hatte ihn getroffen, kam er im Frühjahr 1945 zur Familie nach Seybothenreuth zurück. Es war Nachtzeit. Hörbar klopfte unser Vater an die verschlossene Haustür und machte sich mit gedämpften Ruf „Kuni!“, Abkürzung für Kunigunda, bemerkbar. Ich wachte dadurch auf. Mein Gedächtnis als 81-Jähriger hat diese emotionale Situation klar gespeichert, als sei es gestern gewesen. 78 Jahre ist dies nun schon her. Wo ist die Zeit denn bloß geblieben? – Wie eine Prophezeiung erscheint in diesem Zusammenhang eine Begebenheit nur wenige Tage zuvor. Ein Militärzug hatte im Bahnhof einen längeren Halt einlegen müssen.

Einige Soldaten in Uniform kamen zu uns ins Bahnhofsnebengelände, um sich zu waschen, zu rasieren und sich etwas aufzuwärmen. Unsere Mutter konnte, sich entschuldigend, nur einen dünnen Malzkaffee, einen sogenannten „Muckefuck“, anbieten. Bei der Verabschiedung äußerten sie sich: „Möge euer Vater bald aus dem Krieg gesund heimkehren!“ und drückten uns einen Geldschein in die Hand; sie waren sehr freundlich. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten – noch nicht vier Jahre war ich damals alt. Wenn ich mich heute daran erinnere, berührt es mich noch immer. Unsere Familie hatte viel Glück gehabt. Grund genug, dankbar zu sein. Die Kriegsgräuel heute, zu sehen fast täglich im Fernsehen, das Elend von Kindern und Jugendlichen, Menschen auf der Flucht oder in unmenschlichen Massenlagern interniert, finde ich unerträglich.

Der Liedermacher Wolf Biermann vermochte das Grundanliegen der Menschheit „Wann ist denn endlich Frieden?“ mit eindrucksvollen Worten so auszudrücken:

Vers 1:

Vers 2:

Schließen möchte ich meine Geschichte mit der Jahreslosung 2019: „Suche Frieden und jage ihm nach.“