Reiselust anno 1939

REISELUST

In den Seniorenrunden von Mitterfels lebt ein reicher Erzählschatz

„Also mein Mann war Werksleiter am Kraftwerk des Höllensteinsees im Bayerischen Wald, und wir haben dort eine schöne Dienstwohnung und überhaupt unser Auskommen gehabt. Aber einsam war es halt. Da hat uns ...

... meine Schwester in Frankfurt zu sich eingeladen. Bloß das Fahrgeld hat uns gefehlt. Zum Glück sind die Schwammerl recht gewachsen, Steinpilze mit Kappen, wie ich sie in meinem Leben noch nicht gesehen habe. Damit wir das Fahrgeld zusammengebracht haben, haben wir Schwammerl getrocknet. Mein Mann hat mir rechteckige Rahmen gezimmert und mit Fliegengitter überspannt. Der Strom vom Kraftwerk hat uns kostenlos die Wärme geliefert. Zwanzig so Lagen haben wir herunterhängen gehabt. Und zwanzig Pfund gedörrte Schwammerl habe ich verkauft zum Weghofer nach Birka. Das war eine Kramerei, 2,80 DM hat das Pfund gekostet. Der Kramer hat dann 5,80 DM fürs Pfund bekommen, weil er sie nach München geliefert hat. Das habe ich hinterher erfahren.

Dann habe ich mir auf Abzahlung ein Kostüm schicken lassen vom Versandhaus Horn in München; ein graues Flanellkostüm und einen weißen Hut dazu mit einem blauen Band, das hinten ein Stück herunter gehängt ist. Wenn man den Kopf gedreht hat, ist das Band geflogen. Das war so fesch. Für die Kinder, unsere fünf jährige Traudi und den dreijährigen Buben, habe ich selber etwas genäht. Also jetzt sind wir so weit gewesen. Mein Mann ist nach Kötzting gefahren und hat die Fahrkarten geholt.

Am nächsten Tag gegen drei Uhr nachmittags sind wir aufgebrochen nach Lehen, einer Bedarfshaltestelle der Regentalbahn, und eine gute halbe Stunde vom Höllensteinsee entfernt. Der Weg hat durch dichten Wald mit hohen Bäumen geführt. Da hat man den Himmel und die Wolken nicht sehen können. Und wie wir so halbwegs hinterm Kraftwerk waren, ist ein Gewitter aufgestiegen, aber so schnell; Regen, Hagel, Blitz und Donner. Ja, was bleibt uns übrig? Weit und breit kein Haus. Da haben wir uns halt unter die Tannen gestellt. Kein Schirm, der Koffer aus Pappmache. Wer hätte sich denn damals um 50 DM einen richtigen Koffer kaufen können? Der unsere hat 9,50 DM gekostet. Wir haben uns natürlich gefürchtet unter den hohen Bäumen, aber ein bisschen haben sie den Regen doch abgehalten; freilich nicht lange. Dann ist der braune Dreck heruntergelaufen, mir auf den Hut hinauf; die Krempe ist mir gleich ins Gesicht herein gehängt. Das Kostüm hat dunkle Flecken bekommen und die Schulterpolster sind immer kleiner geworden. Der Koffer ist aufgeweicht. Die Kinder haben zu weinen angefangen, der Mann zu schimpfen: ‚Weil du es hast heute haben wollen; wir hätten auch morgen fahren können.‘ Wir sind mindestens drei bis vier Stunden unter den Tannen gestanden, patschnass. Der Zug war weg. Mit dem Heimgehen haben wir warten müssen, bis es finster geworden ist, dass uns die Leute vom Kraftwerk nicht haben sehen können.“