Zum 100. Todestag: Josef Schlicht - ein niederbayerischer Europäer?

Schlicht2 wDie Tafel an Schlichts Geburtshaus in Geroldshausen

Was war „Hei­mat“ für den Stein­acher Schloss­be­ne­fi­zi­aten, was ist „Hei­mat“ für heu­ti­ge Men­schen?

Schlicht0 wAls der 86-Jährige am 18. April 1917, es war ein Mittwoch, mit dem urbayerischen Spruch, vom engen Freund Ludwig Niggl überliefert, „Bua iatz san d’Wagscheitl brocha“ starb, tobte in Europa der Erste Weltkrieg. Als Joseph Schlicht an einem Sonntag, am 18. März 1832, in Geroldshausen in der Hallertau geboren wurde, erlebte das Königreich Bayern einen ausgesprochenen Griechenland-Hype. In unseren Zeiten – obwohl seit Jahrzehnten kriegsverschont, wohlversorgt, empfinden viele Menschen Unsicherheit, vielleicht sogar Angst vor Migration, Asylbewerbung, Religionsverlust, aber auch religiösem Fundamentalismus, scheinbarem Verlust von Heimat, einfach vor der Zukunft. Begeben wir uns also auf eine Spurensuche, in welche Heimat Joseph Schlicht hineingeboren wurde und in welcher er starb – und stellen wir gegenüber, was unsere jungen Menschen heute als ihre Heimat bezeichnen. Die Jahre um 1830 waren wohl davon gekennzeichnet, dass sich die Völker Europas langsam von den furchtbaren Folgen der napoleonischen Machtfantasien erholten. In Bayern bricht um 1835 die „moderne Zeit“ an: Der „Adler“, eine Dampflok, fliegt von Nürnberg nach Fürth, der Main-Donau-Kanal wird beschlossen, die Befreiungshalle wird gebaut, mit dem Bau der Walhalla wird begonnen, München erhält eine Universität, die Bavaria, die Glyptothek, Otto wird König der Griechen, Klenze bringt Athen an die Isar. Doch was kam von diesem Aufbruch bei den Hopfenstangen an?


Kindheit

Hans Agsteiner, Heimatforscher aus Steinach, schreibt über Schlichts Kindheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wohl aus dessen Autobiografie zitierend: Josef Schlicht war der erstgeborene Sohn einer kinderreichen Gütlersfamilie, die einen Hof mit 14 Tagwerk bewirtschaftete. Von seinen 17 Geschwistern überlebten elf das Kleinkindalter nicht. Schlicht selber über sich in der dritten Person: „Sein Vater war in der Junggesellenzeit ein Zither-, Sing- und Schützenblut, ohne Falsch von je, ehrliebend, sehr viel Gemüt; seine Mutter liebherzig, flink, frohsinnig, in Rede und Gebärde eine Landanmut von ihrem Jugendgeschäft, dem Kleidermachen. ... Schwere Tragödien umspielten bereits seine Kindheit. Er wurde im fünften Herbst ein Halbwaise. … Den ersten Lebensbund seines Vaters schloss die Liebe, den zweiten nur mehr das Geld. … Nach seinem sechsten Jahr hörte das Vaterhaus auf, ihm sein trautes, süßes Heim zu bleiben. Er selbst war freilich auch kein stilles, kosiges Stiefkind, eher ein halsbrechend wilder Bube, der auf dem Firste des Strohdaches auf dem Kopf stehend turnte.“ So berichtet Schlicht über seine Abstammung, dass er beinahe unehelich zur Welt gekommen wäre, da die „Bauernfünfer“ (Vorläufer des Gemeinderats) die Eheerlaubnis für seine Eltern mangels Vermögen verweigerten. Heiraten durfte damals – mit Blick auf die Armenkasse – nur, wer eine gesicherte Existenz aufweisen konnte. Es hat seit dieser Zeit weit mehr als hundert Jahre gedauert, bis etwa Verschiedenartigkeit der Religionszugehörigkeit als ein gewisses Ehehindernis völlig überwunden war. Auch Kindersterblichkeit ist in unserem Lande wohl die niedrigste seit allen Zeiten. Andererseits benennt der aktuelle „Armutsbericht 2017“ der Bundesregierung aber schon ein Gerechtigkeitsproblem der Verteilung von Vermögen in Deutschland. Und die Situation auf dem Lande in Ländern der Dritten Welt ist wohl unvergleichlich schlimmer als die zu Schlichts Geburtszeiten in der Hallertau.

Schule und Studium

Schlicht4 wIm Jahre 1844 wurde Schlicht ein Mettener, will heißen, dass er mit Unterstützung seines Heimatpfarrers in die Lateinschule des Benediktinerklosters Metten aufgenommen wurde. Dort gehörte er „niemals unter die Ersten, aber auch unter die Letzten niemals, sondern jedes Mal und unentwegt zur Kern- und Mittelgruppe“ ... So schildert er später diese Jahre. Am 12. August 1852 erhielt Schlicht das Reifezeugnis. Eigentlich wollte er an der Universität studieren, doch scheiterte dies zunächst am fehlenden Geld. Schließlich konnte er mithilfe eines erfolgreichen Gesuchs an „Seine bischöflichen Gnaden“ doch Theologie in Regensburg studieren und schloss durchaus erfolgreich ab. Die Promotion scheiterte dann doch am Geldmangel. Würde Schlicht heute ein Gymnasium besuchen, wäre das nächstgelegene wohl Wolnzach, etwa fünf Kilometer entfernt, mit Schulbus bequem in zehn Minuten zu erreichen. Metten liegt heute von Geroldshausen etwa 120 Autobahnkilometer entfernt, um 1850 war der Landweg mit einer Pferdekutsche eine Tagesreise. Auch würde er wohl Schüler-Bafög bekommen und könnte Theologie mindestens in München, Regensburg oder Eichstätt studieren. Auslandssemester würde wohl das Erasmus-Programm finanzieren. Bei den dokumentierten Leistungen wäre er vielleicht sogar ein „Maximilianer“.

Schlichts Studienzeugnis aus dem ersten Theologie-Semester.


Der geistliche Herr

Im Jahr 1871 bezog er schließlich seine Lebensstellung in Steinach als Benefiziat bei der Schlossstiftung zu Unserer Lieben Frau, bepfründet im Jahre 1336 und noch heute fortbestehend. Nach der morgendlichen Messe in der Kapelle im Schloss Steinach schienen seine geistlichen Aufgaben bis auf gelegentliche Aushilfen bei Pfarrerskollegen erledigt zu sein. Elke Holmer, geb. Spanner, bemerkt in ihrer Hausarbeit zur Staatsprüfung für das Lehramt an Grundschulen, vorgelegt 1991, dass etwa Schlichts erster Schlossherr Freiherr von Berchem-Königsfeld „sehr angetan war von der Tatsache, jetzt einen gelehrten Geistlichen um sich zu haben“. Dennoch kam es zum Streit, weil Schlicht „nicht bereit war, für die Herrschaft des Schlosses des öfteren den Unterhalter zu mimen“. Schließlich kam es sogar zu einem gerichtlichen Streit über die Pflichten und Rechte des Benefiziaten, den Schlicht allerdings verlor. Mit Dr. August von Schmieder, Schlossherr ab 1901 und evangelischen Glaubens, dagegen bestand zum katholischen Benefiziaten wohl bestes Einvernehmen, nachzulesen im Kapitel: Die Chronik von Schloss Steinach in „Die Geschichte von Steinach“: „Einen so großartigen Aufschwung in allen Zweigen wie unter August von Schmieder gibt demnach Schloß und Gut Steinach in gar keiner früheren Zeit zu verzeichnen

Schriftsteller

Wikipedia nennt unter Joseph Schlicht insgesamt sechs Bücher und vier Theaterspiele, der im Morsak Verlag 2004 erschienene Nachdruck von „Bairisch Land und Bairisch Volk“ in der Bibliografie zwölf Werke. Seine erste Veröffentlichung wurde 1870 im Straubinger Tagblatt gedruckt: „Landskizzen“.

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... aus Schlichts Notizbüchlein NB I, Seite 35. 

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In seinen Notizbüchlein finden sich ganz sicher Skizzen seiner weiteren Werke: Johann Wax subsummiert in seiner Magisterarbeit aus dem Jahre 1986 Schlichts Erzählungen unter dem Begriff „Heimatliteratur“, der er auch Werke der Erzählergeneration Gotthelf, Keller, Stifter und andere zuordnet. In diesem Beitrag fiel die Text-Auswahl auf weniger Bekanntes, eher Überraschendes. In Schlichts Buch „Niederbayern“, erschienen im Jahre 1898 bei der Nationalen Verlagsanstalt in Regensburg, findet sich im ersten Kapitel „Das allgemeine Antlitz Niederbayerns“ eine geografisch-meteorologische, besiedlungs- und religionsspezifische, sprach- und vegetationskundliche, auch Fauna und Flora berücksichtigende Beschreibung, welche allerdings durchaus literarische Qualitäten aufweist: „Aus der physikalischen Karte von Deutschland tritt uns das ebene Niederbayern noch nirgends entgegen als grüngefärbtes Tief-, sondern gelbeingezeichnetes Hochland. Erklimmt in der Höhenkarte von zehn Stufen die vierte und fünfte mit zwei- bis vierhundert Stab über dem Nordseespiegel. Fällt in der Volkskarte von den fünf Stufen auf die vorletzte mit zwei- bis viertausend Menschen in der Geviertmeile. Nimmt auf der vierstufigen Regenkarte, vom Donautieflande die Alpenströme und Hügelzüge aufwärts gehend, den zweiten, dritten und vierten Rang ein im Reichtume der atmosphärischen Niederschläge. Trägt auf der sechsstufigen Wärmekarte mit einer Mitteltemperatur von acht bis zehn Celsiusgraden den Farbenton der zweitwärmsten Landstrecken Deutschlands. Zeigt in der viergegliederten Religionskarte die geschlossene Farbe des römisch-katholischen Bekenntnisses. Erscheint auf der siebzehnstufigen Sprachenkarte Gesamtdeutschlands als unvermischt reiner Germanenstamm mit der oberdeutschen Zunge, welche die Schöpferin und Mutter der Schriftsprache ist. Liegt in der Vegetationskarte der Erde ganz eingezeichnet in das grüngefärbte Waldgebiet des östlichen Festlandes mit der acht- und neunundvierzigsten Breite über dem Gleicher und noch innerhalb der nördlichen Weingrenze. Und gehört auch auf der Heimatkarte der Tiere in jenen bevorzugten Erdgürtel, der das Reh und den Edelhirsch umschließt.“ Joseph Schlicht nennt als Handapparat für dieses Buch an die 40 „Hilfswerke“.

Schlicht als Bauerndichter

Dr. Sigl nennt die größte Illusion Schlichts dessen Streben, ein Bauerndichter zu werden: „Ich wollte nichts anderes, als den Bauern allein eine Freude bereiten.“ Der Bauer aber, so Schlichts Erfahrung, liest nicht, denn sie lesen nicht, sie leben nur. Dass, laut Sigl, die Bauerndichtung dennoch nicht ausstarb, verdanke sie dem „einzigen Umstand, dass das gebildete Bürgertum – wie speziell heute (1982) – in einem Unbehagen vom wechselnden Verhältnis von Kultur und Natur erfüllt mit der Sehnsucht des Städters zurück zur Natur sucht“. Um wie viel mehr gilt dies 2017 – ein Vierteljahrhundert über die Jahrtausendwende hinweg in diesen globalen Zeiten, wo sich der allgegenwärtige Wandel der Gesellschaft etwa darin dokumentiert, dass in Bayern von den aktuell rund 110.000 Betrieben gut 1.000 Betriebe jährlich aufgeben. Niederbayern wies um 1900 bei einer Bevölkerungszahl von etwa 650.000 Einwohnern etwa 80.000 landwirtschaftliche Betriebe auf, in diesen Jahren bei gut 1,2 Millionen Einwohnern nur mehr etwa 16.000 landwirtschaftliche Betriebe.


Über Schlichts Reisen

Dr. Sigl beginnt in „Der rechte treue Baiernspiegel“ das Kapitel „Schlichts Reisen“ mit einem Zitat: „Unter das Angenehmste und Liebste in Steinach zählte er seine Reisen, jede in der schönsten Jahreszeit, und die er um das zehnfache Geld, das sie ihn gekostet haben, nicht hergäbe.“ Dann zählt Sigl auf: eine Nordenfahrt im Jahre 1853 über Prag nach Berlin und Hamburg, an den Kochelsee, nach Murnau und Hohenschwangau, nach Lindau, Konstanz, Ulm, Straßburg, Châlons, dann nach Paris, Le Havre, Basel, Zürich, auch Wien, Ungarn, insgesamt 20 Reisen. Schlicht also doch ein niederbayerischer Europäer! Die Reise nach Prag begann nach Schlichts Reisebericht mit Problemen, denn er hatte den nötigen Visumseintrag in Waldmünchen nicht erhalten: Die dortige Grenzstation war unbesetzt, da „des Zöllners Gattin ins Wochenbett kam“. Ich will ziehen in die Welt hinaus, erleb die schönsten Freuden. Ich will gehen meinen eignen Weg, erfahr die große Freiheit. Ich will verbunden bleiben, meine Familie sehen. Ich will wiederkommen, meine Heimat spüren. Nora, 18 Solches ist für uns Heutige gänzlich unverständlich, ist doch die völlige Reisefreiheit eine der wunderbaren Errungenschaften des Schengen-Abkommens der Europäischen Union. Aus der Charta der EU-Bürgerrechte: Unionsbürger können sich überall in der Europäischen Union niederlassen und dort einer selbstständigen Tätigkeit nachgehen. Europäische Richtlinien sorgen dafür, dass die eigene Berufsausbildung im Gastland auch anerkannt wird. Innerhalb der Europäischen Union genießen alle Unionsbürger das Recht auf Freizügigkeit. Das schließt die freie Einreise, freien Aufenthalt, freies Wohnrecht, die freie Wahl des Studien- und Arbeitsplatzes sowie die Niederlassungsfreiheit ein.

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Die tiefblau eingefärbten Länder sind sog. Kernländer des Schengenabkommens. Die roten Punkte markieren einige von Schlichts Reisezielen.


Schlicht6 wDer Tod

Exakt zum Todestag des Steinacher Schlossbenefiziaten notiert der Kriegsbericht der Heeresgruppe deutscher Kronprinz: „Die am frühen Morgen einsetzenden Angriffe der Franzosen in der Champagne brachen nach stärkster, seit Tagen bereits gesteigerter Feuerwirkung in etwa 20 Kilometer Breite vor. Der auch dort vom Feinde erstrebte Durchbruch wurde in unseren Riegelstellungen aufgefangen. Im Gegenangriff wurden den dort kämpfenden französischen farbigen Divisionen bereits erreichte Waldstücke zwischen Moronvillers und Auberive wieder entrissen und ihnen an 500 Gefangene und eine Anzahl von Maschinengewehren abgenommen.“ Es muss als gesichert gelten, dass Schlicht – obwohl Steinach von direkten Kriegseinwirkungen wie im Zweiten Weltkrieg verschont – von den Frontmeldungen Kenntnis genommen hat, wenn wieder einmal „ein Held für das Vaterland am Felde der Ehre“ sein Leben hingegeben hat. Auch schon vom Tode des 24-jährigen Josef Bachl im 70er-Krieg musste Schlicht erfahren haben, findet sich dessen Todesnachricht doch noch heute im Denkmal der Opfer von Krieg und Vertreibung. Joseph Schlichts Biograph Dr. Sigl notiert in seiner „Einführung in Leben und Werk des Klassikers der bairischen Volkskunde“ im Stichwortverzeichnis nur dreimal „Krieg“ und einmal „Kriegsanleihe“. Ob sich in den Schlichtschen Notizbüchern NB I und NB II mehr Einträge zu „Krieg und Leid“ finden, könnte eine vertiefte Auswertung erbringen.

Karl Penzkofer, Steinach

Quellen: Ein Teil der Texte ist Schlichts Autobiographie entnommen.

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